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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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zweiten dieser Abende erlebt.) So wird der Kontakt mit Herrn Shi-shmi nicht abbrechen. Auf die Sache mit dem Ausleihen des Kompasses sind wir damals abends dann noch zu sprechen gekommen. Ich habe Dir ja geschrieben: ich war entschlossen, dem Drängen Herrn Shi-shmis nachzugeben. So habe ich es dann auch gesagt. Herr Shi-shmi hat mir sehr stark gedankt. Am liebsten wäre er gleich losgefahren, aber es tauchte die Schwierigkeit auf, an die er nicht gedacht hatte, daß ja seine Frau Witwe-Mutter Shi-shmi zu Besuch zu erwarten war. Eine Abwesenheit des Sohnes in dieser Zeit wäre unschicklich. Also verschob Herr Shi-shmi die Zeit-Reise schweren Herzens bis auf die Zeit nach dem Ende des Besuches seiner Mutter. Daß ich über diesen Aufschub erleichtert war, brauche ich dir nicht zu schreiben. Vielleicht vergeht ihm bis dorthin die Lust doch noch. Den Kompaß habe ich hier im Hong-tel bei mir.
    Als mich Frau Pao-leng abholte, schaute Herr Shi-shmi ziemlich verwirrt – unbeschadet der Herzlichkeit unseres Abschiedes–, denn er ist sich natürlich nicht im Klaren darüber, welcher Art die Beziehungen sind, die sich zwischen der Dame und mir entwickelt haben. Da ich zwar in seinem Gesicht einen Teil seiner Gedanken lesen kann, er die meinen bei mir aber nicht (das hat er oft gesagt), war er ganz unschlüssig. Frau Pao-leng aber benahm sich, wie es ihre Art ist, freundlich und ungezwungen. Und was geht das auch letzten Endes Herrn Shi-shmi an, auch wenn er mein Freund ist und ich ihm viel verdanke.
    Ja: ich kann in den Gesichtern der Großnasen einen Teil, sogar einen großen Teil ihrer Gedanken lesen, sie können das umgekehrt bei mir nicht. Warum? Herr Shi-shmi, mit dem ich in aller Offenheit auch darüber gesprochen habe, sagt: er habe früher schon mehrere Angehörige unseres Volkes kennengelernt, also heute lebende Ur-Enkel von uns, die, wie er sagt, äußerlich meiner Erscheinung doch sehr ähnlich seien. Auch bei denen sei ihm immer schwergefallen, im Gesicht zu lesen. Bekanntermaßen, fuhr er fort, ginge es allen Großnasen so, und sie empfänden unser normales Alltagsgesicht als lächelnde, um nicht zu sagen grinsende Maske und damit als tückisch, weil sich unfreundliche Reaktionen nicht vorher durch Veränderungen des Mienenspiels ankündigten.
    Ich erkläre mir das so: die Großnasen haben ganz grobe Gesichtszüge. Sie haben ebendiese großen Nasen, haben hervorquellende runde Augen, wulstige Lippen, ein hervortretendes Kinn und riesige Zähne. So ein Ungetüm an Gesicht im Zaum zu halten, vermag auch die stärkste Seele nicht. Jede Seelenregung setzt sich somit ins Gesicht fort, und da das Gesicht grob ist, spiegelt sich selbst die edelste Regung (die unedlen um so mehr) in verzerrter, vergröberter Weise in den Zügen. Wenn sie froh sind, fletschen die Großnasen die Zähne, verziehen den Mund nach oben – wenn sie böse sind, fletschen sie auch die Zähne, verziehen aber den Mund nach unten oder schieben die Unterlippe vor. Häufig werden sie erschreckend rot dabei. Das sind einfache Beispiele. Für den Unkundigen sieht alles bedrohlich aus, wie Du Dir vorstellen kannst, und ich brauchte meine Zeit, um die Unterschiede zu lernen. Heute finde ich es nicht mehr bedrohlich; es oft komisch zu finden, kann ich nicht verhindern. Nicht einmal bei Frau Pao-leng.
    Herr Shi-shmi trug also – er ließ es sich nicht nehmen – das Lederetui Ko-feng, in dem meine Sachen verpackt waren, hinunter. Ich trug meine Tasche. Ich verabschiedete mich mit einer Drei-Viertel-Verbeugung und einigen schmeichelhaften Redewendungen von Frau Witwe-Mutter Shi-shmi, die dabei die Zähne fletschte, und bevor Frau Pao-leng und ich in den kleinen A-tao-Wagen stiegen, umarmte ich Herrn Shi-shmi und dankte ihm in einer längeren Rede für die unzähligen Wohltaten, die er mir erwiesen hat.
    Im blauen A-tao-Wagen von Frau Pao-leng war es – wir hatten ja vier dicke Ko-feng dabei und meine Reisetasche – sehr eng, wir kamen aber gut vorwärts, und sie wühlte sich mit ihrem A-tao-Wagen höchst geschickt durch das Chaos auf den Straßen, so daß wir schon nach kurzer Zeit im Hong-tel ankamen. Dort riß ein Diener das Türchen des A-tao-Wagens auf und – was ich sogleich in seinem groben Gesicht lesen konnte – wunderte sich, daß zwei Personen nebst vier Ko-feng und einer Reisetasche in dem winzigen Gefährt Platz hatten.
    Es ergab sich sogleich eine peinliche Schwierigkeit. Um sie zu erklären, muß ich weiter ausholen und Dich daran

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