Briefe in die chinesische Vergangenheit
merken. Er nannte mir deshalb seinen Intimnamen. Die Großnasen haben nämlich immer mindestens zwei Namen: einen öffentlichen und einen, manchmal zwei, mit dem sie im familiären Kreis angeredet werden. Der öffentliche Name des Herrn Shi-shmi ist eben »Shi-shmi«, der familiäre Name Ma-ksi-mai-lan; so nennen ihn etwa seine Musik-Freunde; seine Frau Witwe-Mutter aber nennt ihn »Ping-tsi«. Herrn Shi-shmis Frau Witwe-Mutter heißt mit öffentlichem Namen auch Shi-shmi, mit familiärem Intimnamen Yo-cha-na, Herr Shi-shmi aber nannte sie Ma-’ma. Frau Pao-leng heißt mit Intimnamen Ak’-ga-ta. Über weitere Intimnamen verfügt sie nicht. Ich nenne sie aber: »Frühlingsmandelbäumchen in der Morgensonne«. Aber dies nur nebenbei.
Der bärtige Herr also sagte: ich solle ihn der Einfachheit halber mit seinem Intimnamen anreden, und der laute Yü-len.
Ich sprach mit Meister Yü-len – denn er hat wohl den Anspruch auf diese Anrede – über den Ruß in der Luft.
Das sei allerdings ein Problem, sagte Yü-len-tzu, ein Problem, das die Großnasen lange Zeit nicht erkannt hätten. Meine Frage, sagte er, ob die Tiere und Bäume denn den beständigen Ruß in der Luft vertragen könnten, könne er mir nur hinsichtlich der Bäume beantworten, denn von Tieren verstehe er nichts, von Bäumen aber schon, und da müsse er die eindeutige Antwort geben: nein. Die Bäume vertragen es nicht, oder besser gesagt: nicht mehr. Und was passiert? fragte ich. Ganz einfach, sagte Meister Yü-len, die Bäume verkümmern, werden fahl und welk, lassen die Zweige hängen, sterben ab und fallen um; erst die Nadelbäume (bei denen sei es jetzt soweit) und später die Laubbäume. Wenn ich mit ihm an bestimmte Stellen ins Land hinausfahren würde, sagte er, könnte er mir die räudigen Stellen im Wald zeigen, die in den letzten Jahren immer mehr um sich gegriffen hätten. Es würde nicht mehr lang dauern, dann würden nicht die räudigen Stellen als Inseln oder Lichtungen im Wald auffallen, in wenigen Jahren würden die noch heilen Stellen wie Büschel im Chaos der Rußkrätze stehen, bis endlich alles an Bäumen verschwunden sei.
Ich müsse mir das so vorstellen, daß jahrzehnte-, ja fast jahrhundertelang die Großnasen in ihrem Wahn vom Fort-Schreiten allen Unrat gedankenlos über den Wald und überhaupt über die Natur ausgegossen haben. »Die Bäume können nicht schreien und um Hilfe rufen«, sagte Yü-len-tzu. »Vergeblich wedeln sie stumm mit ihren Blättern. Gnadenlos wurden sie geschunden. Tapfer haben sie versucht zu widerstehen. Jetzt ist der Moment gekommen, in dem ihre Kraft erlahmt ist. In wenigen Jahren wird es wahrscheinlich keinen Wald mehr geben.«
»Ja«, sagte ich, »was wird denn da unternommen?«
»Im Grunde genommen: nichts«, sagte Meister Yü-len. »Ich und meinesgleichen schreien zwar – stellvertretend für die Bäume, sozusagen –, aber die Schmutzerzeuger sind stärker, und die Minister sind deren Freunde.«
»So«, sagte ich, »aha. Ich verstehe. Die Minister sind korrupt?«
»Ja«, sagte Meister Yü-len.
»Habe ich es mir doch gedacht«, sagte ich. – So hat sich die Welt also in dem Punkt nicht geändert, habe ich in Gedanken für mich hinzugefügt. Die Minister sind korrupt. Das alte Lied. Offenbar hält sich das Schlechte über die Jahrhunderte hinweg. Den Brand eines Hauses überleben die Wanzen.
»Ja, ja«, sagte Meister Yü-len. »Es gibt nur eine Hoffnung für den Wald: die Minister gehen gern auf die Jagd. Fast alle Minister gehen gern auf die Jagd.« (Aha: auch das ist nicht anders geworden.) »Es gilt als fein, vornehm und als Privileg, auf die Jagd zu gehen. Wenn es eines Tages soweit ist«, sagte Yü-len-tzu und hob die Hand, »daß der Wald auch dort verkommt, wo die Minister zur Jagd gehen, und daß es keine Rehe und Hirsche mehr gibt, die sie erlegen können, dann kann es sein, daß die Minister ein Interesse daran bekommen, den Wald zu retten. Aber dann ist es womöglich zu spät.«
Ich faßte große Zuneigung zu Yü-len-tzu.
»Ich weiß«, sagte ich, »daß es keinen Kaiser mehr gibt und auch keinen Wu, der den korrupten Ministern auf die Finger klopfen oder ab und zu einen köpfen lassen könnte …« Meister Yü-len lachte.
»Ich kann Ihnen sagen«, fügte ich hinzu, »es wirkt oft Wunder, wenn ein korrupter Minister geköpft wird. Es ändert die Welt nicht, aber ein paar Jahre lang sind die Minister weniger korrupt.«
»Sie reden«, sagte er, »als kämen Sie aus einer anderen
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