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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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ist keine wirkliche Gnade, denn sie wird nur dem zuteil, der sie – in den Augen der Lehre – wirklich verdient. Diese Gnade ist also wieder nichts als versteckter Lohn. Die Großnasen haben eine Krämergesinnung ihrem Gott gegenüber. Das ist, meine ich, eine verheerende Folge der abergläubischen Personifizierung ihres Gottes, zu der sie sich versteigen. Sie stellen ihn sogar auf Bildern dar. Er ist ein würdiger alter Mann mit langem, grauem Bart. Seine Züge sind die Züge der Großnasen. Wenn das stimmen sollte, so wären wir, die wir ganz anders aussehen, von vornherein benachteiligt. Das soll ein gnadenreicher Gott sein? Wirkliche Gnade ist die, die dem zuteil wird, der sie nicht verdient. Der Gott der Großnasen, wenn er wirklich gnädig wäre, müßte den zu sich aufnehmen, der ihm flucht.
    Aber ich vermute, daß das alles gar nicht die wirkliche Lehre dieses Gottes war, der auf die Erde gekommen ist. Ein Gott ist so fern und groß, daß er sich menschlichen Begriffen gar nicht offenbaren, geschweige denn, sich selber in ein Gerüst von juristischen Vorschriften begeben kann, das man dann mit menschlichem Witz auslegt und interpretiert. Ich habe mich erkundigt: von jenem Gott, der vielleicht aber nur ein verehrungswürdiger Weiser war mit unfaßbar tiefen Einsichten in göttliches Wesen, von jenem Ye-su, wie sie ihn nennen, gibt es keine einzige Zeile von seiner eigenen Hand. Alles, was von ihm überliefert ist, stammt von Jüngern seiner Jünger. Es ist enthalten in vier Heiligen Büchern, von denen aber auch nur spätere Abschriften erhalten sind. (Es ist das gleiche, wie mit unserem Meister K’ung-fu-tzu, um ehrlich zu sein.) Herr Shi-shmi hat mir diese Heiligen Bücher gegeben. Sie sind nicht sehr umfangreich, und ich habe sie mit großer Anteilnahme in einer einzigen Nacht gelesen. An keiner Stelle bezeichnet sich der Verehrungswürdige Ye-su, dem höchste Achtung zu zollen ich nicht anstehe, als Gott. Er bezeichnet sich als Menschen-Sohn und läßt keinen Zweifel, daß alle Menschen Kinder Gottes sind. Ich vermute, daß die Lehre stark korrumpiert ist. Ich nehme an, daß der achtunggebietende Menschen-Sohn Ye-su die Menschlichkeit um ihrer selbst willen gelehrt hat und daß seine Jünger ihn nur nicht verstanden und die krämerische Vorstellung von Lohn und Strafe hinzugefügt haben, weil sie es nicht besser begriffen.
    Aber auch dieser Gedanke, sagte Herr Shi-shmi, sei nicht neu. In den zweitausend Jahren, die seitdem vergangen sind, hat die Lehre manche Wandlung durchgemacht und zahllose Interpretationen erfahren, die nicht nur zu gelehrten Auseinandersetzungen, sondern zu Streit und Krieg geführt haben. Herr Shi-shmi erzählte mir von einigen dieser Interpretationen. Eine machte mich stutzig: sie geht auf einen weisen Meister zurück, der Ge-go aus Na-tsia heißt (und zur Zeit unserer Östlichen Chin-Dynastie gelebt hat). Die Lehre besagt, grob gesprochen, daß Gott zu unbegreiflich und zu unfaßbar ist, als daß man über ihn nachdenken könnte. Man darf überhaupt nicht über ihn nachdenken. Jedes Nachdenken über Gott ist Blasphemie.
    Selbstverständlich hat sich auch diese Lehre des großen Ge-go aus Na-tsia nicht durchgesetzt in einer Welt, die alles Neue zunächst immer einmal als besser als das Alte betrachtet, ihren Sinn im Fort-Schreiten sieht und ständig von sich fortschreitet. Wie heißt es im Buch IX des unsterblichen ›Lun Yü‹? »Der Meister seufzte hinsichtlich des Yin Yü: ›Ach, ich habe ihn immer fortschreiten sehen, ich habe ihn nie stillstehen sehen.‹«
    Als mir Herr Shi-shmi das alles erzählte, als ich das las und mit meinen Freunden darüber redete, dämmerte mir eine eigenartige Verbindung dieser Welt hier mit meiner Heimat. Dämmert Dir nicht auch etwas? Bei uns im Reich der Mitte lebt eine abgekapselte Sekte von Leuten, die an einen Gott im fernen Westen glauben. Das sind Anhänger der Lehre jenes Ye-su. Sie sind durch religiöse Verfolgungen mehrfach versprengt und zuletzt, ganz weit weg von ihresgleichen, bei uns seßhaft geworden. Sie nennen sich die Leute von der Leuchtenden Lehre (Ching-chiao). Ich werde versuchen, nach meiner Rückkehr mit ihnen in Verbindung zu kommen. Bisher habe ich sie nicht beachtet. 16
› Hinweis
    Das also ist meine zugestanden kursorische Zusammenfassung über den Stand der Religion der Großnasen. Ich möchte nicht rechten. Niemand weiß, was die Wahrheit ist. Ist es besser, durch Nachdenken (das leicht zum Spekulieren führen

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