Briefe in die chinesische Vergangenheit
kann) das Wesen des Himmels zu ergründen zu trachten? Ist selbst ein Irrweg lehrreich? Oder sollen wir es dabei bewenden lassen, gute Menschen zu sein? Ich weiß es nicht. Ich halte es mit dem lapidaren Wort des Meisters vom Aprikosenhügel: »Man beschäftigt sich nicht mit der Prophezeiung, das ist es.«
Und so grüße ich Dich nach diesem langen Brief, der vielleicht der wichtigste von allen ist bisher,
als Dein ferner Freund Kao-tai
Dreiundzwanzigster Brief
(Montag, 11. November)
Teurer Dji-gu!
Je mehr ich aus dem Privatleben heraustrete, desto größer wird die Gefahr, daß meine Herkunft entdeckt wird. Das ist nur natürlich. Solang ich bei Herrn Shi-shmi gewohnt habe und sozusagen in seiner Obhut war, war ich sicher. Jetzt lebe ich hier in dem Hong-tel, in dem die Leute ein- und ausfliegen wie in einem Taubenschlag. Zwei gibt es, die um die Bewandtnis wissen, die es mit mir hat: Frau Pao-leng und Herr Shi-shmi. Herr Shi-shmi nimmt meine Zeit-Reise und die Tatsache, daß ich in seiner Welt nur »Zeit-Gast« bin, sehr ernst, und er weiß, was es heißt und wie wichtig es ist, ein Geheimnis zu hüten. Er wäre ein Edler im Sinn der Lehren des K’ung-fu-tzu, wenn er in unserer Welt lebte. Frau Pao-leng wäre auch ein Edler, wenn sie ein Mann wäre. Das ist – abgesehen vom Lob ihrer Schönheit – das Beste, was man von einer Frau sagen kann. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie die Offenbarung meiner Herkunft wirklich glaubt. Sie fragt nie. Meinte sie vielleicht, daß ich mit meiner Geschichte, die in ihren Ohren natürlich absurd und unglaublich klingen muß, ein anderes, zwar glaubwürdigeres, aber anrüchiges Geschick verbergen will? Ich lasse es dabei bewenden.
Warum habe ich Angst vor der Entdeckung meiner wahren Herkunft, da ich ja mit meiner Zeit-Reise wohl nichts Verbotenes getan habe? Man würde mich als Gespenst ansehen. Das wäre mir unangenehm. Man würde mir nicht glauben. Das müßte mir noch unangenehmer sein, denn ich wäre versucht, den Beweis anzutreten, was ich ja könnte. Dann aber gälte ich als Weltwunder und könnte nicht mehr beobachten, denn ich wäre sogleich das Ziel vieler fremder Beobachtungen. Nein, es ist besser, es ist sogar unabdingbar, daß ich sozusagen aus dem Verborgenen spähe und selber ganz unauffällig bleibe, wie schwer das für mich auch ist, da ich selbst in der Kleidung der Großnasen so wenig in die Erscheinungen dieser Welt passe.
Meister Yü-len ist zurückgekehrt. Er wohnt jetzt in einem anderen Zimmer, aber immer noch hier im Hong-tel. Er fragt viel und ist deshalb eine Gefahr. Mich ihm rückhaltlos zu offenbaren, wie ich es bei Herrn Shi-shmi und Frau Pao-leng getan habe, halte ich nicht für gut. Ich muß eben sehen, daß ich immer geeignete Antworten auf seine verfänglichen Fragen finde. Wieder ist er auf das Gespräch mittels Te-lei-fong zu jenem Waldbau-Experten in Peking zurückgekommen, und zwar mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit. Der eine vergebliche Versuch damals hat ihn nicht entmutigt. Herr Yü-len-tzu hat die Dame, die das Haupt-Te-lei-fong im Hong-tel bedient, fast verrückt gemacht. Sie mußte andauernd versuchen, so eine Te-lei-fong-Verbindung mit Peking zustande zu bringen. Oft ist es nicht gelungen. Oft wurde eine hergestellte Verbindung wieder unterbrochen. (So ganz ausgefeilt scheint das System doch nicht zu sein, zumindest nicht auf die große Entfernung.) Aber endlich meldete sich, ganz leise und kaum hörbar, der entfernte Waldbau-Experte. Zum Glück wußte ich ja kaum, was ich mit ihm reden sollte. Ich richtete ihm nach einigen einleitenden Höflichkeiten die Grüße von Herrn Yü-len aus. Der Herr aus Peking, unser Ur-Enkel, hat viel von unserer Höflichkeit verlernt. Erstens hat er mich für einen Sinkiang-Chinesen gehalten, der einen seiner Meinung nach unverständlichen Dialekt spricht, und zweitens hat er sich so gut wie gar nicht nach meinem Befinden und danach erkundigt, ob meine Eltern noch am Leben sind. Er ließ Herrn Yü-len grüßen. Das war dann alles. Aber Herr Yü-len-tzu freute sich, und ich hoffe, daß damit dieser kritische Punkt erledigt ist.
Eine andere Sache ist aber keineswegs erledigt: sie fängt vielmehr erst an. Sie dreht mir fast den Magen um vor Angst, andrerseits erweckt sie ganz ungeheuer meine Neugier.
Das war gestern: ich komme nichtsahnend in die Halle des Hong-tel hinunter, wo ich mich mit Herrn Yü-len-tzu zu einem Fläschchen Mo-te Shang-dong verabredet hatte. Sitzt er also da – und wer
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