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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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weiter«, sagte der Dichter in vollendeter Bescheidenheit und Höflichkeit, die manchen unserer Herren von den »Neunundzwanzig moosbewachsenen Felswänden« zieren würde, »ich bin doch nichts anderes als ein einfacher Schreiber, und ich kritzle halt so hin, was mir in den Sinn kommt.«
    Ich entgegnete, daß ich, obzwar mein Blick eher die liliengleich erhabenen Verse des Herrn Si-gi beschmutzen würde, demnächst mir von meinem Freund die so erhabenen wie unvergleichlichen Werke beschaffen lassen und mich in ihnen bis an mein Lebensende vertiefen würde.
    »Ah – gehen Sie doch weiter«, sagte der edle Si-gi. Dazu ist zu sagen, daß diese Floskel »– gehen Sie doch weiter …« in der Umgangssprache von Min-chen keineswegs eine Aufforderung ist, sich zu entfernen. Die Floskel bedeutet: »Machen Sie sich keine unnötigen Gedanken darüber –« oder »Sie dürfen das nicht so wichtig nehmen –«.
    »Sie sind von Chi-na herübergekommen?« fragte er dann. Er schnitt, während er sprach, eine jener rübenartigen, weißen Früchte in hauchfeine Scheiben, wie sie hierorts gern zum Hal-bal genossen werden. La-di heißen die Früchte. Herr Si-gi, nachdem er die La-di-Frucht sorgsam geschnitten, streute ein wenig Salz zwischen je zwei Scheiben und stellte sie wieder zur ursprünglichen Rübe zusammen. »Der La-di muß weinen, sagt man bei uns«, belehrte mich Herr Si-gi in seiner herablassenden Güte. Er meinte damit, daß das Salz die Feuchtigkeit aus der Rübe ziehen müsse.
    »So, so«, sagte er, »dann sind Sie also von Chi-na. Kennen Sie den Konfuzius?« Damit meinte er den Meister K’ung. Ich war verwirrt und meinte im ersten Augenblick – unsinnigerweise –, er spiele auf meine entfernte zeitliche Herkunft an. Daher sagte ich unwillkürlich: »Nicht persönlich.«
    Da lachte Herr Si-gi aus vollem Hals und wiederholte ein paar Mal, daß ich ihm gefalle. Herr Yü-len-tzu, obwohl nicht vom Meister Si-gi angeredet, sonnte sich in der Gnade, die sich über mich ergoß. Es stellte sich heraus, daß Herr Si-gi schon dies und jenes von K’ung-fu-tzu gehört hatte. Ich erzählte ihm von der himmlischen Lehre des Weisen vom Aprikosenhügel. Herr Si-gi war sehr interessiert und fragte immer weiter. Ich erzählte ihm vom Meister Meng, von der Verachtung, die dieser Meister für den Krieg und das Militär hatte, was Herrn Si-gi sehr gut gefiel, und vom Cheng-ming, 18
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was er auch überaus beifällig aufnahm. »Die Richtigstellung der Begriffe«, sagte er, »daran hapert es bei uns. Haben Sie das auch schon bemerkt?« Ich erlaubte mir zu bejahen. »Das Irrenhaus«, sagte er, »nennt man heute ›Nerven-Heil-Anstalt‹, statt ›lahm‹ sagt man ›gehbehindert‹, statt ›Lehrling‹ ›Auszubildender‹ … lauter verlogene Begriffe. Und wissen Sie, woher das kommt? Weil wir ein verlogenes Zeitalter haben. Daher kommt das. Die Richtigstellung der Begriffe …« Er nickte mit dem Kopf. »Wie heißt das bei Ihnen?« – »Cheng-ming«, sagte ich. »Cheng-ming«, memorierte er ein paar Mal. »Cheng-ming … das muß ich mir merken. War schon ein Hund, Ihr Konfuzius.«
    Erschrick nicht, das ist weit davon entfernt, eine Beleidigung zu sein. In Verbindung mit dem Wort »schon« besagt »Hund« in der Sprache von Min-chen: für diesen habe ich die allergrößte Wertschätzung sowie Bewunderung.
    Wir redeten lang. Sehr stark pflichtete er dem bei, was ich von den Theorien Hsün-k’uangs erzählte, daß nämlich der Mensch formbar, aber an sich schlecht sei. Auch da nickte Herr Si-gi. »Richtig, richtig«, sagte er, »schlecht und dumm.«
    Dann zitierte er, während er zu den Blättern der Kastanie hinaufsah, durch die die Nachmittagssonne schimmerte, ein Gedicht seines verstorbenen Lieblingsdichters und Lehrers. (Den Namen dieses Lehrers habe ich mir von Herrn Si-gi aufschreiben lassen. Er läßt sich in unseren Schriftzeichen nur annähernd mit Che 19
› Hinweis
wiedergeben.) Das Gedicht lautet:
    »Ja, Mensch, mache einen Plan
    Und empfinde dich als Himmelsleuchte
    Und mache weitere Pläne.
    Sie gehen alle nicht.«
    Es kamen dann nach und nach mehrere Freunde von Herrn Si-gi, die mir nur zum Teil gefielen. Ich veranlaßte Herrn Yü-len-tzu, daß er aufstand, ich verbeugte mich, versicherte Herrn Si-gi meiner Ehrfurcht vor ihm und seinen Werken und zog mich zurück. Laut rief mir der Dichter nach: »Ich bin Konfuzianer! Im Ernst!« Übrigens hatte er mir, nachdem die Rübe »geweint« hatte, mehrere Scheiben

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