Briefe in die chinesische Vergangenheit
nichts mehr. Moralvorstellungen gibt es zwar schon noch, die sind aber religiöser Natur und sind für das öffentliche Leben unverbindlich. Moral und Religion haben nur noch poetischen Wert. Man kann sich an ihnen erfreuen, wenn man will, aber das Leben regeln sie nicht mehr.
Daß so ein Staat in Unordnung gerät und daß hier die Vernunft ein Faktor von nur noch dekorativer Bedeutung ist, leuchtet mir ohne weiteres ein.
Die Religion ist übrigens merkwürdig. Sie hat starke Züge von Aberglauben und ähnelt in gewisser Weise dem Buddhismus. Die Großnasen glauben, daß einmal (sie fixieren es genau: ungefähr um die Zeit, als die Östliche die Westliche Han-Dynastie abgelöst hat) ein Gott auf die Erde gekommen sei. Dieser Gott habe dreiunddreißig Jahre auf der Erde gelebt, habe gelehrt und einen Moralkodex hinterlassen und sei dann von den Menschen hingerichtet worden. Eine groteske Vorstellung. Der Gott sei dann wieder auferstanden und in den Himmel aufgefahren, wo er sich in drei Götter aufgefächert habe. Auch seine Mutter habe er mitgenommen, dafür auf Erden einen Stellvertreter in Form eines Oberpriesters zurückgelassen. Es mag sein, daß ich diese Mythologie ungenau wiedergebe, denn zum einen habe ich sie nicht klar verstanden, zum andern sind mehrere Spielarten davon im Umlauf, die sich zum Teil heftig befehden oder zumindest befehdet haben.
Ich habe nach der Lehre dieses Gottes gefragt. Die Lehre ist aller Ehren wert. Die Lehre besagt nichts anderes als jenes große Wort des K’ung-fu-tzu im XV. Buch des ›Lun Yü‹, wo es heißt: »Tzu Kung fragte und sprach: ›Gibt es Ein Wort, nach dem man das ganze Leben hindurch wandeln kann?‹ Der Meister antwortete: ›Die Nächstenliebe. Das du selbst nicht wünschest, tu nicht den anderen.‹«
Von »hier« aus gerechnet, liegt die Han-Zeit fast zweitausend Jahre zurück. Es sind also fast zweitausend Jahre her, seit dieser Gott seine Lehre verkündet hat. Es scheint sich in der Moralvorstellung der Großnasen seitdem nichts geändert zu haben, denn ihre religiöse Lehre von der Nächstenliebe appelliert nicht an die Vernunft und an die Menschlichkeit, sondern allein an ein hartes System von Lohn und Strafe, das auch der Kernpunkt dieser religiösen Lehre ist.
Wie die Buddhisten – und darin sehe ich die Ähnlichkeit – haben die Großnasen einen heillosen Horror davor zu denken, daß ihr bißchen Seele einmal nicht mehr sein könnte. Sie nehmen sich so wichtig, daß sie es als Katastrophe empfänden, wenn ihre Seele nach dem Tod nicht weiterleben würde. Komischerweise empfinden sie es nicht als schrecklich, daß ihre Seele vor ihrer Geburt wohl nicht gelebt hat. Sie nennen ihre Seele »ewig«. Ewig heißt aber, ohne Anfang und ohne Ende. Wie kann etwas ewig sein, wenn es einen Anfang hat? (Dieser Gedanke sei, sagt Herr Shi-shmi, allerdings der großnäsischen Philosophie nicht fremd. Es habe – ungefähr zur Zeit des Meisters We-to-feng einen Weisen gegeben, der Sho Peng-kao geheißen habe. Der habe diesen Gedanken schon geäußert, sei aber nicht so recht durchgedrungen damit.) Mit Hilfe dieses kindischen Schreckens, der für meine Begriffe viel von Dämonenangst und Geisterfurcht in sich trägt, baut die Religion der Großnasen ihr System von Lohn und Strafe auf. Denn nicht um ein vollkommener Mensch zu werden, nicht um mit sich selber ins reine zu kommen, nicht um die Gesellschaft der Menschen im Gleichgewicht zu halten, soll man das Gebot der Nächstenliebe befolgen, sondern – wie es heißt – um »Schätze im Jenseits« anzusammeln. Im Grunde genommen appelliert diese Religion also an den Geiz. Wer hier auf dieser Welt, heißt es, die Lehre der Religion befolgt, dessen Seele fliegt nach dem Tod in den Himmel, wo ein sorgenfreies Leben in Gegenwart des Gottes für alle Ewigkeit bevorsteht. Es wird also vorausgesetzt, daß die Seele jedenfalls ihre Erinnerung an das irdische Leben bewahrt. Sonst dürfte sie ja nicht belohnt werden. Umgekehrt: wer die Gebote der Nächstenliebe nicht befolgt, kommt nach dem Tod in eine gräßliche Unterwelt, wo es permanent brennt.
Kann ein gütiger Gott, dem Nächstenliebe am Herzen liegt, so unmenschlich sein? Überhaupt: kann ein Gott auf solche juristischen Voraussetzungen das ewige Heil oder Unheil seiner Kinder, nämlich der Menschen, aufbauen? Denn als Kinder Gottes bezeichnet die Religion der Großnasen die Menschen ausdrücklich. Zwar ist auch viel von Gnade die Rede. Aber auch diese Gnade Gottes
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