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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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ich hatte gehofft, er hätte es nun doch vergessen – wieder auf das Ausleihen meines Zeit-Reise-Kompasses zu sprechen. Sobald seine Frau Witwe-Mutter wieder abgereist sei, wolle er die Zeit-Reise unternehmen. Seine Frau Witwe-Mutter solle nichts davon erfahren, weil sie sich sonst nur ängstige. Nachdem die anderen drei Musikfreunde gegangen waren, saßen Herr Shi-shmi und ich noch lang bei einigen Da-wing-do-Brandopfern beisammen. Die Rede kam auf die Religion.
    Wir kamen darauf, weil ich eine Beobachtung anmerkte, die ich schon ganz zu Anfang gemacht habe: einerseits scheuen sich die Großnasen, das Essen mit den Händen anzulangen, und grausen sich vor allem und jedem, andrerseits betasten sie sich andauernd gegenseitig. Die Begrüßung (selbst zwischen Männern und Frauen, sogar zwischen Höhergestellten und Niedergestellten) findet so statt, daß man die Hand des anderen ergreift und knetet und walkt und den ganzen Arm schüttelt. Häufig schlägt einem jemand auf die Schulter, und das unangenehmste ist, wenn einer einem – was nicht selten vorkommt – das Gesicht mit seinem Mund befeuchtet. Bei uns, sagte ich, ist es so, daß sogar Eheleute voneinander nichts aus der Hand entgegennehmen. Das sei Höflichkeit. Wenn einer dem anderen etwas geben will, dann legt er es in einen Korb, und der andere nimmt den Korb. Ist kein Korb da, dann legt er es auf eine Matte. Erst wenn sie über siebzig sind, sagte ich, bewahren Eheleute ihre Kleider nicht mehr in getrennten Truhen auf.
    Die Sitten seien eben anders, sagte Herr Shi-shmi. So kamen wir ins Gespräch darüber. Ich will hier dieses Gespräch nicht im einzelnen schildern, fasse aber die Gedanken zusammen, die ich daraus entnahm.
    Die Großnasen haben nicht nur andere Sitten, sie haben überhaupt keine Sitten. Ich meine damit nicht, daß sie sittenlos im Sinne von: zügellos und ohne Moral sind (das ist wieder eine andere Frage); ich meine das in dem Sinn, daß fast keine festgefügten Sitten, Riten und Gebräuche vorhanden sind. Nur in ganz unwichtigen Dingen sind noch spärliche Reste von Sitten und Riten vorhanden. Was sie im einzelnen bedeuten, ist mir unklar. In den wenigen Tagen, in denen ich die Ehrwürdige Frau Witwe-Mutter Shi-shmi beobachten und befragen konnte, habe ich das erfahren. So gilt es als unglückbringend, wenn man unter einer Leiter durchgeht, eine Schere offen liegenläßt, den Hut auf den Tisch oder die Schuhe aufs Bett legt. Der dreizehnte Tag des Großnasenmonats (unabhängig von der Mondphase) gilt als unheilvoll, im gemäßigten Sinn der fünfte Tag der Wo-’che. Wenn dieser fünfte Tag zufällig mit dem dreizehnten Monatstag zusammentrifft, gehen manche Großnasen nicht aus dem Haus. Wenn einer niest, sagen die anderen »Zum Wohl!«, warum, hat mir kein Mensch sagen können, und auf Ahnengräber legen sie Blumen, sonst nichts. Dabei ist es so, daß sie diese Blumenopfer fast nur den Eltern darbringen, denn die Gräber der Großeltern sind ihnen unbekannt, und von den Urgroßeltern wissen sie kaum noch die Namen.
    Das sind also – mag sein, einige habe ich nicht beobachtet – im Wesentlichen die Riten, auf die diese Welt ihre Ordnung stützt. Es ist klar, daß eine weitreichende Ordnung, Kindesliebe, Ehrfurcht, Wissenschaft, Unbestechlichkeit der Minister und Wohlstand sich nicht aufrechterhalten lassen, wenn nichts anderes geschieht, als daß keine Schere offen hingelegt wird. Übrigens halten sich gar nicht alle daran: bei Frau Pao-leng habe ich einmal eine Schere offen liegen sehen. Ich habe sie ernstlich darauf aufmerksam gemacht. Da hat sie gelacht und gesagt: ja, ja – das kenne sie von ihrer Mutter. Offenbar ist es also so, daß sich nur noch die alten Leute an diese ohnedies schon dürftigen Riten halten, während sie unter den jüngeren in Verfall zu geraten drohen.
    Daß A-tao-Wagen an Kreuzwegen anhalten, wenn eine dort aufgestellte Leuchte rotes Licht zeigt, und erst weiterfahren, wenn das rote durch grünes Licht ersetzt wird, ist keine Sitte, sondern ein willkürlich eingeführtes Gesetz. Dies hat mir Herr Richter Me-lon erklärt. Überhaupt sind Riten und Sitten in dem Maß in Verfall gekommen, wie diese willkürlichen Gesetze, von denen es wahrhaft unzählige gibt, überhandgenommen haben. So sind Sitte und Gesetz getrennt, das heißt: das Gesetz ist losgelöst von jeder Moralvorstellung. Da das Gesetz zu übertreten für Großnasen nicht als unmoralisch gilt, muß der Staat zu Strafen greifen. Belehrungen fruchten

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