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Briefe in die chinesische Vergangenheit

Briefe in die chinesische Vergangenheit

Titel: Briefe in die chinesische Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herbert Rosendorfer
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sitzt neben ihm? Eine leibhaftige Dame aus dem Reich der Mitte. Ich prallte zurück, aber es war zu spät, um mich wieder zurückzuziehen, denn man hatte mich schon bemerkt. Ich war so verblüfft, daß ich jede Höflichkeit vergaß, was aber – nachträglich besehen – wieder günstig war. Eine leibhaftige Dame aus dem Reich der Mitte, allerdings, wie ja auch ich, nach Art der Großnasen gekleidet, das Haar nach der Art der Großnäsinnen geschnitten, ohne bandagierte Füße, mit unverschleiertem Gesicht – aber unverkennbar eine Dame aus dem Reich der Mitte. Meister Yü-len sprang auf und präsentierte mir die Dame mit einer Miene, aus der zu erkennen war, daß er meinte, ich müsse angesichts der Dame vor Freude bersten.
    Nun – ich faßte mich bald. Zu Hilfe kam mir der Umstand, daß die Dame aus der Fu-kien vorgelagerten Insel 17
› Hinweis
stammte, die heute von Leuten unseres Volkes bevölkert wird, aber ein unabhängiger Staat ist. Sie sprach einen schauderhaften Dialekt; aber wir konnten uns doch ganz gut verständigen. Ihr Name war »Kleine Frau« Chung. »Kleine Frau« ist bei den Großnasen die Bezeichnung einesteils für ein unverheiratetes weibliches Wesen, andrerseits für eine Aufwärterin in einem Speisehaus, gleichgültig, ob sie verheiratet ist oder nicht. Als ich einmal mit Herrn Yü-len-tzu in einem jener schönen Gärten war, wo die Leute von Min-chen bei gutem Wetter unter ausladenden Kastanien sitzen und Hal-bal oder Ma-’ßa trinken, bediente uns eine Dame, die ein Gesäß hatte wie zwei Pferdeärsche, Hände so groß, daß sie fünfzehn Ma-’ßa-Krüge auf einmal schleppen konnte, und mindestens vier Köpfe größer war als ich. Ein Turm von Fett. Dennoch rief sie Herr Yü-len-tzu: »Kleine Frau!« Das war im Herbst, an einem der letzten warmen Tage. An einem Tisch, etwas entfernt von uns, saß ein Herr, der mir sogleich auffiel. Herr Yü-len-tzu sagte leise: das sei einer der bekanntesten Poeten von Min-chen. Er heiße Si-gi und dichte – wenn ich das recht verstanden habe, was Herr Yü-len-tzu mir da erzählte – nur im Sommer. Sehr vernünftig ist das. Ich wollte, meine »Neunundzwanzig moosbewachsenen Felswände« würden auch nur im Sommer dichten. Aber die dichten tagaus, tagein, daß sich die Balken biegen, ob die Sonne brennt oder ob es hagelt.
    Herr Dichter Si-gi ist schon ein älterer Herr. Seine Haut ist wie von Leder. Ich hätte ihn aufs erste Ansehen für einen Hirten gehalten. Meister Yü-len sagte mir leise: normalerweise sitze Herr Sigi mit einer ganzen Anzahl von Freunden dort und halte förmlich hof. Es sei eine große Ehre, dort an jenen Tisch eingeladen zu werden, und die Ehre sei schwerer zu erlangen als die Einladung zum Abendtisch des Ober-Mandarins von Ba Yan. Selten sitze Herr Si-gi allein da.
    Obwohl Meister Yü-len sehr leise sprach, wurde Herr Poet Sigi aufmerksam und schaute zu uns herüber. Er zog seine Stirn in staunenswert viele Falten und sagte in der etwas derb-kargen Art der Leute von Min-chen: »Redet ihr womöglich von mir?« Ich erhob mich, machte eine Zwei-Drittel-Verbeugung und sagte: »Ich habe in der Tat die nicht zu verzeihende Ungehörigkeit begangen, mit meiner mißtönenden Krächzstimme über die unnahbare Erhabenheit Ihrer verehrungswürdigen Person zu sprechen. Aber ich habe eben erst erfahren, daß ich das unverdiente, einem im Osten aufziehenden Regenbogen vergleichbare Glück habe, in der Gegenwart des bedeutendsten Poeten der gewaltigen Stadt Min-chen zu atmen. Was auch immer ich unnützer Zwerg in Zukunft verbrechen werde, so wird mein unwertes Leben doch überglänzt von dem Verdienst, einige Augenblicke lang vom selben Sonnenstrahl beschienen worden zu sein wie der Fürst aller Poeten von Min-chen und Ba Yan sowie der ganzen Welt.«
    »Ah – gehts weiter«, sagte der Dichter, »setzts euch her zu mir, auf daß wir ein kleines Gespräch führen.«
    Ich wollte mich höflich weigern und erst drei weitere Aufforderungen abwarten. Aber Herr Yü-len-tzu raffte sehr rasch seine Sachen zusammen und rückte hinüber zu Herrn Dichter Si-gi, wohl in der Absicht, die schwerer als eine Einladung zum Obermandarin zu erlangende Ehre, an jenem Tisch zu sitzen, sich nicht entgehen zu lassen. So rückte ich also auch zu Herrn Si-gi hin, nicht ohne mich zweimal in verschiedenen höflichen Formulierungen dafür zu entschuldigen, daß ich die makellose Erscheinung des großen Dichters mit meiner Gegenwart beflecke.
    »Ah – gehen Sie doch

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