Briefe in die chinesische Vergangenheit
davon, auf sein Messer aufgespießt, gereicht. Sie stießen mir noch auf, als wir schon wieder längst im Hong-tel waren. Aber sonst beeindruckte mich die Begegnung mit Herrn Si-gi-tzu, dem Meister, der nur im Sommer dichtet, außerordentlich.
Aber wie komme ich auf den Meister Si-gi? Ja, richtig: über die gewaltig große »Kleine Frau« in jenem Kastaniengarten, und daß es hier diese merkwürdige Bezeichnung gibt, die auch »die kleine Frau« Chung führte, der ich so unvermittelt in der Halle des Hong-tel gegenübersaß.
Ich schrieb Dir schon mehrfach, lieber Dji-gu, daß eine der auffallendsten Erscheinungen in dieser Welt die Stellung und Haltung der Frau ist, daß sie sich wie ein Mann bewegt und daß so gut wie kein Unterordnungsverhältnis der Frau unter dem Mann besteht. Daß die Dinge in den tausend Jahren diese Entwicklung nehmen konnten, ist für mich vielleicht das unfaßbarste. Ich habe mit Frau Pao-leng darüber sehr ernstlich geredet, und wir haben viele Gedanken hin- und hergewendet. Diese Entwicklung nur als Verfall der Sitten und der Ordnung der Familienbande anzusehen, wird der Sache nicht gerecht. Frau Pao-leng sagt: ich solle doch versuchen, die Duldsamkeit, die ja auch ein Kernpunkt der Lehre des Erhabenen K’ung-fu-tzu ist, wie etwa auf Barbaren und Kaufleute auch auf Frauen anzuwenden. Nirgends am Himmel stehe, sagte sie, daß eine Frau nicht auch ein Chun-tzu 20
› Hinweis
sein könnte. Ein Argument, dem schwer zu widersprechen ist.
Wie Frau Pao-leng – sie ist, wie ich inzwischen herausgefunden habe, Lehrerin – übt auch Kleine Frau Chung einen Beruf aus: sie ist Fliegende Servier-Zofe.
Du wirst fragen: was ist das, eine Fliegende Servier-Zofe? Um Dir das zu erklären, muß ich wieder einmal weiter ausholen. Diese Welt der Großnasen ist so unendlich fremd unserer Welt, daß es fast unmöglich ist, Dir, der Du sie nur aus meinen Briefen kennst, auch nur den Grad der Fremdheit klarzustellen. Es sind nicht nur die Dinge hier, die anders sind, es ist die Fremdartigkeit der Begriffe und der Denkvorgänge. Die Entsprechungen zwischen unserer vertrauten und dieser Welt sind so gering, daß mir oft, wenn ich etwas schildern soll, die Anknüpfungspunkte fehlen. Es ist so, als ob ich einer blinden Schildkröte das Erscheinungsbild eines Kamels erklären wollte. Beide, Schildkröte und Kamel, haben vier Beine, einen Kopf und einen stummeligen Schwanz, das ist schon alles an Übereinstimmung, und selbst Beine, Kopf und Schwanz sind ganz verschieden an Schildkröte und Kamel und haben kaum Ähnlichkeit.
Ich habe Dir bis jetzt in meinen Briefen Phänomene geschildert, die mir aufgefallen sind, habe sie zu erklären versucht, zu analysieren, so gut ich sie selber verstanden habe. Aber das ist alles noch längst nicht das Bild dieser Welt im Gesamten. Es gibt Erscheinungen, Verhaltensweisen, Fremdartigkeiten, die das ganze Leben prägen, die mir natürlich längst aufgefallen sind, die ich mir erklären konnte oder nicht, von denen ich aber dennoch bisher nicht gesprochen habe. Warum? Weil ich nicht alles gleichzeitig schildern kann. Ich bin, so mußt Du Dir das vorstellen, vor einen riesigen gewebten Wandteppich gestellt mit Tausenden von Figuren und Gegenständen. Der Blick erfaßt zwar – oberflächlich – rasch und vieles auf einmal, aber die Schilderung hinkt nach.
So habe ich noch nie etwas von den künstlichen Fliegenden Drachen erzählt. Ich sah den ersten aus der Nähe, als ich mit Frau Pao-leng in ihrem A-tao-Wagen einen Ausflug in die Umgebung machte (übrigens: an einen recht idyllischen See, an dem ein Ort mit dem anheimelnden Namen Tu-ching liegt). Wir machten damals, es war noch im Sommer, eine kleine Rundreise, besuchten sogar mehrere Seen im Süden von Min-chen und kehrten auf einer der großen Stein-Straßen, die nur dem Verkehr für A-tao-Wagen vorbehalten sind, in die Stadt zurück. Kurz bevor wir wieder in die Randbezirke der Stadt einfuhren (Tore gibt es nicht mehr; die Stellen sind dadurch bezeichnet, daß die radialen A-tao-Straßen in die tangentialen einmünden, wodurch, habe ich mir sagen lassen, ein ständiger Knäuel von A-tao-Wagen entsteht), sah ich in geringer Höhe den grauen Eisendrachen über uns hinwegfliegen. Er flog ruhig und majestätisch, den Kopf weit vorgereckt, die Flügel ausgebreitet, glitt eigentlich mehr, wirkte deshalb nicht drohend, weil er unsren kleinen A-tao-Wagen da unten überhaupt nicht beachtete, glitt dahin, sichtlich im Begriff, sich
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