Briefe in die chinesische Vergangenheit
Herr Yü-len-tzu sagte, unter Kennern noch höher geschätzt wird als Mo-te Shang-dong; es ist auch dreimal so teuer. Danach besuchten wir eine kleine unterirdische Trinkstube, in der laute Musik, rötliche Beleuchtung und Rauchqualm herrschte. Es war ähnlich wie in jenem Etablissement »Das Paradies«, nur daß keine Entkleidungskünstlerinnen auftraten. Das Publikum führte – woran ich mich natürlich nicht beteiligte – selber Tänze vor. Auch Herr Yü-len-tzu bot mit Kleine Frau Chung einen solchen Reigen dar. Die Regeln durchschaute ich nicht. Für unsere Begriffe wirken diese Großnasentänze ziemlich primitiv. Eigentlich tun sie nichts, als daß sie sich paarweise betasten und etwas hüpfen. Als Herr Yü-len-tzu fragte, ob ich nicht auch einmal Kleine Frau Chung zu einem Tanz führen wolle, verbeugte ich mich entschuldigend und sagte, ich erlaube mir abzulehnen, da ich diese Tanzkunst nicht beherrsche.
Später dann gingen wir ins Hong-tel. Meister Yü-len war ziemlich müde geworden und zog sich zurück. Kleine Frau Chung begleitete mich noch in mein Zimmer. Dort tranken wir eine weitere Flasche Do-pe-nong (ich erfuhr, daß auch dieses Getränk im Hong-tel vorrätig ist), und dann gestattete Kleine Frau Chung, daß ich sie beschlief. Auch sie entkleidete sich dazu nach der Sitte der Großnasen völlig. Sie hat zwar unbandagierte, also große Füße, aber einen anheimelnd kleinen Busen. Die Form ihres Haarwäldchens erinnerte mich an meine Konkubine Feng-ma, und ich bekam wieder einmal Heimweh. Kleine Frau Chung schlief nachher ein. Ich lag noch lang wach und vergoß eine Träne in Gedanken an mein Haus in K’ai-feng, an Dich, an Feng-ma und an meine süße kleine Shiao-shiao. Aber es mag sein, daß das nur eine weiche Seelenstimmung aufgrund des vielleicht etwas zu reichlich genossenen Do-pe-nong war. Danach schlief ich gut und ruhig.
Und so grüße ich Dich, lieber ferner Freund, und bin
Dein alter Kao-tai
Vierundzwanzigster Brief
(Montag, 18. November)
Mein lieber Dji-gu.
Bitte sei nicht ungeduldig. Du brauchst es mir auch nicht in jedem Brief zu schreiben. Ich merke es mir und denke daran. Wenn es mir irgend möglich ist, werde ich versuchen, jener Entkleidungskünstlerin den Trick mit den kleinen weißen Bällen zu entlocken. Ich war noch nicht wieder in dem Etablissement »Das Paradies«. Ich kann Dir nur soviel sagen, daß sich die betreffende Künstlerin restlos nackend entkleidet hat, sodann hat sie sich mit etwas ausgestellten Beinen hingestellt, hat mit drei weißen Bällen, die etwa so groß waren wie kleine Hühnereier, jongliert (wenig kunstvoll), hat dann einen Ball nach dem anderen geschluckt – oder hat jedenfalls so getan, ist dann etwas gehopst, und an einer Stelle weiter unten, die für anderes gedacht ist, sind die Bälle nacheinander wieder herausgekommen – scheinbar, natürlich. Die Künstlerin hat dazu kleine, spitze Schreie ausgestoßen. Genau hat man es nicht gesehen, wie die Bälle herausgekommen sind, kannst Du Dir doch denken. Wahrscheinlich hat die Entkleidungskünstlerin die Bälle in ihren Händen verborgen. Woanders kann sie sie kaum verborgen haben, weil sie nichts angehabt hat. Oder doch: sie hat, wenn ich mich recht erinnere, ein breites, weißes Halsband angehabt, das mit glitzernden (wahrscheinlich wertlosen) Steinen bestickt war. Aber das hatte wohl mit dem Trick nichts weiter zu tun. Aber wenn es Dich beruhigt: ich werde, sollte die Dame noch im Etablissement »Das Paradies« auftreten, versuchen, mit ihr zu sprechen, und ihr gegen ein Geldgeschenk den Trick entlocken.
Vielleicht interessiert Dich jedoch auch das, was mir vor wenigen Tagen Meister Yü-len gezeigt hat. Es war am Tag, nachdem ich mich am Abend vorher bei einem der Freunde von Herrn Shi-shmi an der Musik der Heiligen Vierheit wieder einmal ergötzt hatte. Ich erwähne das nur, weil die beiden Eindrücke so unvorstellbar weit voneinander entfernt waren: die Heilige Vierheit von Herrn Shi-shmi und seinen Freunden und das, was mir Herr Yü-len-tzu gezeigt hat. Dazwischen liegt abgestuft die zerrissene Welt der Großnasen.
Herr Yü-len-tzu mietete einen A-tao-Wagen, und wir fuhren in eine Gegend der Stadt, wo ich noch nie war. Daß das Wetter scheußlich war – es schneite, vermischt mit Regen –, verstärkte den trostlosen Eindruck der Stein-Straßen und der schmutzigen Häuser. Diese Häuser sind überaus hoch und unregelmäßig gebaut. Sie sind gar nicht aus Stein, wie es aufs erste
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