Brigade Dirlewanger
über die Grenze, illegal in die Schweiz? Die Auswahl war nicht sehr groß. Es gab nicht mehr viele Länder, die frei waren.
Aber darum ging es ihm nicht. Er mußte weg von dem Mädchen, weg von Karen, um sie zu schützen. Vonwegh durfte nicht mehr zurückschauen, nur nach vorne sehen.
Er glaubte etwas zu hören und blieb stehen.
Weiter. Er erreichte die Häuser des Kreisstädtchens. Im Osten zog das Licht auf. Ein schmaler Silberstreifen würde sich in einen strahlenden Tag des Altweibersommers verwandeln. An einem Tag, wie man ihn liebt, der ein Lächeln hervorbringt, der die Wiesen noch einmal grün macht, der Großstädter in die Parks lockt …
Er sah auf die Uhr. Er hatte noch Zeit. Viel zu viel Zeit. Ich bin zu früh gegangen, warf er sich vor. Der Zug ging in eineinhalb Stunden. Er saß irgendwo und boxte seine Gefühle wund. Er schlug zu, so fest er konnte, traf immer wieder den Punkt am Kinn. Aber was er für Karen empfand, ging nicht k.o.
Nur nicht allein sein, sagte er sich töricht, geh unter Menschen, hör dir ihr Geschwätz an, lass dir ihre Nichtigkeiten wie Unrat über den Kopf spülen, dann schaffst du es; nimm daran teil, daß das Baby der Frau Maier dreiundfünfzig Gramm Übergewicht hat und die Kuh des Bauern Hinrichs eingegangen ist. Hör dir an, daß Frau Schmidt gegen den Umgang ihrer Tochter mit einem Obergefreiten der Flak ist. Lass dir vom Blockwart erzählen, was Adolf Hitler alles für Deutschland tut. Nick mit dem Kopf oder klatsch Beifall oder mach, was du willst, oder geh aufs Klo und kotz zum Fenster hinaus oder spring aufs Dach oder zieh die Notbremse, tu alles, denk nur nicht an Karen …
Er saß auf der Bank und wartete auf den Zug. Achtundzwanzig Minuten noch. Die Zeit ließ sich verdammt viel Zeit. Er mischte sich unter die Leute. Ihr Gespräch verlief etwas anders und war doch genau so. Für die Partei warb nicht ein Blockleiter, sondern ein Lehrer.
Eine Bäuerin bemerkte unter der vorgehaltenen Hand: »Der will bloß seinen Druckposten halten … Er ist doch ukagestellt …«
Die andere Frau erwiderte verbittert: »Solche sollte man zuerst hinausschicken.« Sie dachte an ihren Mann, an ihre zwei Söhne und an den Hof, den sie mit einem französischen Kriegsgefangenen allein bewirtschaften mußte.
Das Kind hatte Untergewicht, und die Nachbarin fand den Obergefreiten ›riesig nett‹.
Paul Vonwegh, Flüchtling aus Beruf, jetzt auch vor sich selbst, teilte ihre Sorgen, fühlte ihre Sympathien und Antipathien mit. Er senkte den Kopf und sah auf den Boden. Er hörte, wie der Zug ausgerufen wurde, der ihn nach Berlin bringen sollte, zur Station Nummer 1 seines Rückzugs. Der Boden müßte einmal gründlich geschrubbt werden, dachte er. Aber wenn Frauen in den Rüstungsfabriken Granaten drehen müssen, dann sehen die Bahnhofshallen so aus, und vielleicht müssen sie es auch, denn im Krieg schmecken die Wartesäle nach Leid und Tränen …
Paul Vonwegh mußte aufstehen. Er hob den Kopf. Sein Nacken war steif. Er kam nur zwei Schritte weit. In der Tür erschien, erregt und abgehetzt – Karen.
Ihre Angst und ihre Enttäuschung ertranken in einem einzigen Lächeln …
Er sieht es. Wieder und wieder … Er sieht es noch.
Paul Vonwegh blickt auf die Uhr. Sieben erst. Etwas muß draußen los sein. Die Posten hasten fluchend durcheinander. Durch das Lager geistert Spannung. Vonwegh tritt an das Fenster heran und sieht hinaus. Nichts zu erkennen, aber zu spüren: ein lähmendes Gefühl, das sich langsam ausbreitet, von einem zum anderen fortpflanzt, Angst, mit ein paar Löchern, durch die Hoffnung rinnt …
Morgens um acht Uhr dreiundfünfzig ist der höhere SS- und Polizeioffizier Prinz, ausgerüstet mit einer Sondervollmacht Himmlers, im Lager angekommen, um offizielle Ermittlungen gegen das Treiben Dirlewangers und seiner Trabanten einzuleiten.
Wer diesem hageren Mann mit den kurzgeschorenen Haaren und dem militanten Auftreten begegnet, weiß mit einem Blick: Das ist ein sturer Hund, ein Mann, der sich wie den anderen wenig schenkt, ein Fanatiker auch im kleinen, ein Pedant.
Der Postenchef am Tor bekommt den ersten Auftritt mit. Er wollte den alten Polizeioberst aufhalten, bis Dirlewanger gewarnt sei.
»Das haben Sie zu unterlassen!« fährt ihn Prinz an.
»Ja, aber …«
»Sie führen Befehle aus und halten den Mund, verstanden?«
»Jawohl, Herr Oberst«, entgegnet der Burggendarm und macht das Kreuz hohl.
Prinz läßt einen seiner Ordonnanzoffiziere im
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