Bring mich heim
hatte ihre Augen bereits geschlossen. Ihr Körper hob und senkte sich sanft. Die Beine hatte sie fest an sich gezogen. Die Arme waren darum umschlungen. Ihre gesamte Gestalt wirkte nun anders als noch zuvor.
Vor wenigen Minuten wirkte sie zufrieden und jetzt ... jetzt sah sie verloren aus. Hilflos ... Es sah beinahe so aus, als ob sie sich durch diese Haltung selbst zu schützen versuchte. Als ob sie die Welt abzuschirmen probierte.
Sie bewegte sich nicht, sie war regungslos. Sie schien erneut zu schlafen. Wie konnte man so schnell einschlafen? Es waren höchstens vier Minuten vergangen, seitdem sie wieder saß. Ihr Buch hielt ich nach wie vor in meiner Hand. Neugierig, wie ich war, konnte ich es einfach nicht lassen. Ich öffnete es an der Stelle, wo das Leseband eingeklemmt war.
Eine erstaunliche Bleistiftzeichnung sprang mir ins Auge. Eine lebensecht wirkende Hand mit einer wachsenden Pflanze in der Handfläche. Sie war perfekt. Ich hätte es nicht von einer Schwarz-Weiß-Fotografie unterscheiden können. Ich war erstaunt, wie jemand derart gut zeichnen konnte.
Meine Neugierde war geweckt. Also blätterte ich weiter. Versuchte dabei, so leise es mir nur möglich war, zu sein. In diesem Büchlein befanden sich unzählige Zeichnungen. Eine perfekter als die andere. Blumenwiesen, Sonnenuntergang über einer Stadt. Das Leben. Gesichter, Lachen. Es waren so viele Porträts von Frauen und Männern. Jedes Gesicht mit einem großen Lachen. Einen Mann zeichnete sie sehr oft. Von allen Seiten. Das gesamte Gesicht. Nur die Augen. Dann nur der Mund. Er musste etwas Besonderes für sie sein.
Und dann war sie. Ein Selbstporträt, mit dem schönsten Schmunzeln, welches ich je gesehen hatte. Es war nur durch dieses Bild ansteckend. Doch da war noch mehr. Ihre Augen. Sie strahlten in dieser Zeichnung vor Lebensfreude. Lebensenergie. Ihr Gesicht war atemberaubend. Sie sah gleich aus, wie hier eben in diesem Zug und dennoch komplett anders.
In dieser Zeichnung hatte sie lange, glatte Haare. Das Mädchen vor mir hatte scheinbar kurze, so viel ich mit dieser Mütze erkannte.
»Gib her!« Genervt riss sie mir das kleine Buch aus den Händen. Unsere Fingerspitzen berührten sich hauchzart. Wow ... sie hatte so weiche Finger. Sofort setzte sie sich wieder hin.
Mit beiden Armen in der Höhe entschuldigte ich mich: »Es tut mir leid. Ich wollte wirklich nicht unhöflich sein und spionieren. Ich wollte es eigentlich für dich aufheben.« Ich lächelte sie entschuldigend an und fügte dazu, um ihre finstere Miene etwas aufzuhellen: »Du zeichnest verdammt gut.«
Scheinbar half es absolut nichts. Sie blickte mich trotz allem an, als ob sie mich fressen wollte. Ihr kleines Buch an ihren Oberkörper gepresst, als ob ihr Leben daran hing. Der Atem der jungen Frau stieg deutlich an. Ihr Körper wurde starr und die Augen weiteten sich. Es waren beinahe nur mehr ihre Pupillen sichtbar. Sie bekam hier jetzt hoffentlich keine Panikattacke? Hatte ich mit dem Begutachten ihrer Zeichnungen tatsächlich so sehr in ihre Privatsphäre eingegriffen?
Okay ... es war definitiv die Geste eines großen Arschlochs, einfach ohne Erlaubnis darin zu stöbern. Für gewöhnlich tat ich das auch nicht. Ich selbst würde es für unverschämt halten, wenn jemand in meinen Dingen zu wühlen begann. Aber ich konnte nicht aufhören zu blättern. Diese Illustrationen waren extrem gut. Sie sprachen zu einem. Man spürte die Gefühle dahinter. Es war, als ob man in dieser Situation selbst dabei gewesen wäre. Ich wurde verleitet.
Ihr ganzes Benehmen und ihr Aussehen machten es für mich nun mal ziemlich schwer wegzusehen. Genau genommen sollte ich mich dafür ohrfeigen. Das hier sah nämlich nach einem enorm schlechten Flirtversuch aus. Nein, eher nach Spanner.
Sie versuchte, so gut es ging, mich zu ignorieren und sah nur starr aus dem Fenster. Ihr gesamter Körper war noch immer angespannt. Dennoch dürfte ich auch ihre Neugierde geweckt haben. Ich erwischte sie ab und an bei einem schüchternen Seitwärtsblick in meine Richtung. Unsere Blicke trafen sich hier und da. Ich lächelte sie an. Jedoch sie erwiderte es wieder nicht. Nur verharrten ihre Augen länger an meinen. Ihre smaragdgrünen Augen fingen leicht zu funkeln an. Ich ließ nicht locker und sah weiterhin zu ihr.
»Es tut mir leid wegen vorhin. Ich wollte nicht in deinen Sachen schnüffeln. Es gehört sich nicht, so etwas zu tun. Für gewöhnlich würde ich das auch nicht machen, aber ich blieb an
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