Bring mich heim
deinen Zeichnungen hängen.«
Sie blinzelte mich ein paar Mal mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Schüttelte ihren Kopf und drehte sich wieder zu dem Fenster. Ab und an erwischte ich sie, wie sie durch ihre Finger zu mir sah.
Ich sollte sie in Ruhe lassen. Nur zog mich etwas an. Ich wollte, dass sie mich ein weiteres Mal ansah. Ich musste ihre Augen sehen. Noch ein Mal ihre Stimme hören.
»Ich bin übrigens Samuel ... Sam«, platzte ich in diese Stille.
Ich sah sie unzählige Male blinzeln, dabei atmete sie ruhig ein und aus. Der feste Griff um das Buch wurde ein wenig lockerer. Bis sie es schlussendlich sogar auf den kleinen Tisch vor ihr legte.
Mein Unterbewusstsein drängte mich dazu, sie einfach in Ruhe zu lassen, aber ich konnte noch nicht. Ich sah sie lieber an. Sie hatte einen großen Rucksack mit. Alles wirkte sehr nach Interrail. Aber warum reiste man als Frau alleine?
Ihr Blick aus dem Fenster wurde immer starrer. Ihr Körper war nach wie vor angespannt. Die Hände hatte sie zu Fäusten geballt. Die Knöchel traten stark hervor und waren weiß. Als ich genauer hinsah, bemerkte ich etwas Blut an ihrer Handfläche. Sie drückte so stark mit den Nägeln zu. Ich konnte es fast nicht mit ansehen. Wie war jemand fähig, sich selbst in dieser Art zu verletzen? Ich musste sie von diesen Gedanken, die sie dazu gebracht hatten, ablenken.
»Fährst du auch nach Budapest? Oder geht es von dort aus weiter?« Es war nicht nur so, dass ich ihre Gedanken umleiten wollte. Nein, meine Neugierde war obendrein zu groß. Vermutlich machte ich ihr nur Angst und sie sprach aus diesem Grund nicht mit mir.
Ich hörte sie tief durchatmen. Beinahe wirkte es wie eine besondere Atemtechnik, um die Nervosität in Griff zu bekommen. Ich wartete geduldig, bis sie mir in meine Augen sah. Ohne ein Wort zu sagen.
Ich war sofort in dem smaragdgrünen Meer verfangen. Starrte hinein.
Wenn sie schon nicht mit Worten sprechen wollte, so sprach sie mit ihrem Blick. Sie war müde. Nicht müde müde. Da war mehr dahinter. Erschöpfung. Lustlosigkeit. Etwas fehlte ihr.
Noch immer wich sie mir nicht aus. Ab und an blinzelte sie. Ihr Atem wurde ruhiger, ihr Körper entspannte sich sichtbar. Ihre Fäuste lockerten sich. Die Handflächen wischte sie sich ohne weiter darüber nachzudenken an ihren dunkelgrauen Jeansshorts ab. Blutreste von ihrer linken Hand verschmierten die Hose. Es schien ihr nichts auszumachen. Oder sie bemerkte es nicht. Denn der Blick war noch immer steif auf mich gerichtet.
Sie holte einige Male tief Luft, bis sie schließlich zu sprechen begann. »Siehst du dir für gewöhnlich immer die Sachen anderer an?«, sagte sie ziemlich angepisst.
Nicht gerade das, was ich erwartet hatte. Nicht dieser Ton. Aber gerechtfertigt. Sie war wohl doch etwas sauer.
Nervös kratzte ich an meinem Hinterkopf. »Schau, es tut mir wirklich leid. Aber dein Buch lag mitten im Gang. Ich wollte nicht, dass jemand drauftritt. Und ich hatte vor, es dir zu geben. Dann sah ich diese Zeichnung. Ich konnte nicht wegsehen und fing zu blättern an.« Entschuldigend sah ich zu ihr rüber. »Es kommt nicht wieder vor.«
Sie blinzelte noch einmal und sagte in einem Flüsterton: »Okay.« Nicht mehr.
Kapitel 10 1/2
Mia – Nichts ist okay
Graz, Dezember 2011
Nein, ich war nicht okay. Gar nichts war okay. Alles war einfach nur zum Kotzen. Und das konnte man auch wörtlich meinen.
Es war zum Haare ausraufen. Wenn noch welche da gewesen wären. Am liebsten hätte ich die Welt niedergeschrien.
Nervös blickte ich von einer zur anderen Seite des Raumes. Ich kratzte fest an der Narbe am Arm. Der Schmerz erinnerte mich wieder daran, dass ich noch immer hier war.
Mit beruhigender Stimme sagte Dr. Weiß: »Ich bin hier, Mia. Sie sind noch da. Alles ist in Ordnung.« Mit starrem Blick sah ich ihm direkt in die Augen. Unfokussiert. »Atmen Sie ruhig ein und aus. So wie wir es geübt haben.«
Ich blickte weg. Mein Körper bewegte sich noch immer nicht. Nur die Finger, welche an der Wunde kratzten. Ich konnte das nicht. Es ging mir nicht gut. Mein Kopf war kurz davor zu explodieren. Ich hatte eine Panikattacke. Das spürte ich. Mein Atem war gesteigert. Mein Körper steif. Aber ich wusste es nicht. Ich konnte sie nicht kontrollieren, wenn sie passierten. Und dann waren sie da und ich weg. Wie sollte da alles okay sein.
Nein, es geht mir nicht gut. Wie sollte man so eine Situation wegstecken? Nein, nein, es geht mir nicht gut. Nichts ist okay.
Ich werde
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