Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
des Waldes tief genug sein, um ihn zu verschlingen. Zitternd quälte er sich voran, und als er das Ufer des Festlands erreichte, stolperte er blindlings weiter.
Mehrmals in jener Nacht stürzte er und blieb in einem Zustand dumpfer Erschöpfung liegen. Doch stets kehrte das Bewusstsein zurück, und die Stimmen in seinem Kopf begannen abermals ihn anzuklagen. Dann mühte er sich auf die Beine und preschte weiter. Als das Morgengrauen die Dunkelheit verbannte, hatte er viele Meilen zurückgelegt. Da vergrub er sich in einem Gewirr aus Weinranken, und endlich erlöste ihn der Schlaf von seinen Anklägern.
Als er erwachte, verspürte er nur Hunger. Ein argloses Eichhörnchen gelangte in seine Reichweite, und er, der in seinem ganzen Leben einzig den Gockel getötet hatte, den er dem Gott im Schwert opferte, stürzte sich darauf, riss es in Stücke, fetzte ihm den Pelz vom Leib, zerbiss Fleisch und Knochen. In der Nähe wuchsen wilde Zwiebeln, und auch die aß er, danach trank er wie ein Wolf Wasser aus dem Bach. Dann setzte er sich wieder in Bewegung, nach Süden und Westen, immer tiefer in die Hügel.
Tag um Tag verstrich, und die Stimmen wurden immer schwächer, bis er nach einiger Zeit gänzlich aufhörte, in Worten zu denken. Die seltsamen, klatschenden Dinger um seine Beine wurden ihm lästig, und er riss sie ab und warf sie weg. Er wurde zunehmend schlauer bei der Nahrungssuche, dennoch fand er nie genug, um seinen mächtigen Leib zufrieden zu stellen.
Oft sah er Wild, und einmal erlegte ein geschleuderter Stein ein Tier. Er roch Bären und mied sie, dafür freundete er sich mit den Bibern, Dachsen, Wildschweinen und Wölfen an, die durch die Hügel streunten. Eines Tages begegnete er einem neuen Geschöpf mit einem Fell wie ein Tier, doch es stand aufrecht in den Fluten, um dem Bach Fische zu entreißen. Als er sich ihm näherte, erschrak es und rannte, immer noch auf zwei Beinen, davon. Er ging hinab zum Ufer, um zu trinken.
Das Stauwasser lag spiegelglatt da. Als er sich bückte, bewegte sich in dessen Tiefen etwas, und er sprang zurück. Dann beugte er sich vorsichtiger über das Wasser und erblickte ein mit wucherndem Haar bedecktes Geschöpf, das jenem stark ähnelte, das die Flucht ergriffen hatte.
Ein Wilder Mann… Eine entfernte Erinnerung regte sich, an Menschen, die bei Festen in Kleidern mit bunten Haarbüscheln brüllend durch die Straßen liefen. Und in jenem Augenblick der Klarheit begriff er, welchem Blut er entstammte.
Gab es mehr als den einen, den er gesehen hatte, und würden sie ihn als ihresgleichen anerkennen? Er kauerte sich auf die Fersen; die Erkenntnis, dass er selbst ein Tier war, ermöglichte es ihm zum ersten Mal seit Wochen, wie ein Mensch zu denken.
Sonnenlicht gleißte grell auf dem Wasser; er blinzelte und verharrte, denn da stand jemand. Kein Wilder Mann; es war die Gestalt einer Menschenfrau, umrahmt von leuchtendem Haar. Sie drehte sich, und er erblickte ein Antlitz, an das er sich aus Träumen erinnerte. Als sie sprach, erklang die Stimme, die er so oft in seiner Seele gehört hatte. Von allen menschlichen Frauen hatte allein Igraine je etwas in seinem Herzen bewegt. Dieses Wesen aber berührte eine Stelle, die noch tiefer lag.
»So ist es – du stehst zwischen der Welt der Tiere und jener der Menschen, und du kannst wählen, was du sein willst. Du bist unfruchtbar und wirst nie einen Spross des eigenen Leibes zeugen, doch wenn du zur Menschheit zurückkehrst, wirst du ein geistiges Kind haben, das zum größten aller Könige Britanniens aufsteigen wird.«
Seine Kehle mühte sich, die menschlichen Worte zu formen.
»Wenn ich gehe, wirst du dann bei mir sein?«
»Wenn du dein Herz öffnest«, antwortete sie, »denn ich bin die Braut deiner Seele, und in Wahrheit war ich immer bei dir.«
Der Winkel der Sonne veränderte sich, und die Vision verschwand. Dennoch spürte er ihre Gegenwart noch. Er watete in den Fluss und begann den Dreck abzuschrubben. Dann, als er so sauber war, wie es ging, brach er wieder auf; nicht zurück zur Insel der Maiden, sondern gen Süden, zu Ambrosius Aurelianus und dessen Bruder Uther, die nun die unangefochtenen Anführer Britanniens waren.
VI
Der Drachenstern
A.D. 459
»Ihr habt gesündigt gegen den Herrn der Heerscharen, und der Teufel hat seine Legionen gesandt, um euch zu bestrafen!« Die zerschlissenen Ärmel einer einst weißen Robe flatterten, als der Priester vor dem abendlichen Himmel die Fäuste schüttelte. »Für
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