Britannien-Zyklus 01 - Die Herrin vom See
zwischen den beiden Trilithen und hockte sich mit untergeschlagenen Beinen darauf. Dann schaute er empor und beobachtete, wie sich das gewaltige Himmelsgewölbe auf die heilige Stunde zubewegte, und in jenem Augenblick, als die Sterne mitten am Himmel stillstanden, erwachte der Geist in ihm, und er begann zu singen.
Hell leuchtende Sterne, die ihr strahlt hoch droben
So wie die Feuer von Feinden hier drunten,
Schweigend sollt ihr erzählen eure Geschichte;
Steine sollen Geschichten singen…
Merlin erinnerte sich an die Nacht, die er, als er noch ein Kind gewesen war, mit dem Schmied in dem Grabhügel verbracht hatte. Damals hatten die Visionen unbeherrscht und unerwartet eingesetzt. Nun war er ein Mann im Vollbesitz seiner Kräfte, und er rief sie herbei. Er sang, und einer nach dem anderen traten leuchtende Gestalten aus den Grabhügeln hervor.
Er hörte den rhythmischen Sprechgesang zahlreicher Stimmen, während Männer sich mühten, die massiven Blöcke über den Boden zu schleifen. Stein um Stein wurde der Kreis vervollständigt. Er sah, wie das Blut von Stieren spritzte, um sie zu segnen; er sah Könige mit Gold auf den Schultern und Königinnen mit golddurchwirktem lockigem Haar. Jahr um Jahr sah er die Zeremonien: die Krönungen, die Totenfeiern, die Fußrennen und Wagenrennen um die Grabhügel.
All diese Dinge sah er; und er sang diese Dinge, und als die Sterne ob des herannahenden Morgengrauens zu verblassen begannen, beschwor er die Geister.
»Ihr, die ihr dieses Land liebt, verteidigt es gegen jene, die es zu zerstören trachten. Ihr, deren Gebeine zu dieser Erde geworden sind, verteidigt sie gegen die Todbringer. Ihr, die ihr hier gelebt habt in einer Zeit vor der Zeit, heißt willkommen die Geister jener, die vor kurzem in euer Reich gekommen sind!«
Das Schimmern der Steine schwoll an und strahlte über die Ebene. Wo es hinfiel, stiegen durchscheinende Gestalten aus der Erde auf, mit jedem Lidschlag mehr. So wie der Wind die Blätter hebt, trieb Merlins Gesang sie zu dem frischen Grabhügel. Im Osten erhellte sich der Himmel mit dem ersten Licht des nahenden Sonnenaufgangs. Die Feuer verschwanden hinter einem Schleier undurchsichtiger Wolken, die immer heftiger wirbelten, bis die Erde des Grabhügels sich öffnete und die Geister der jüngst Verstorbenen in die Freiheit strömten.
In jenem Augenblick stieg der lodernde Rand der Sonne über den Horizont. Hinter sich hörte Merlin ein ehrfürchtiges Keuchen; dann blinzelte er angesichts der strahlenden Explosion über dem Grabhügel. Die Sonne hob sich empor aus dem Erddunkel, und Licht flammte in einem gleißenden Pfad vom Grabhügel über das Gras, um von den Steinblöcken des Grabmals widerzuscheinen.
Die Lebenden und die Toten und die Erde selbst stimmten mit ein in einen gewaltigen Jubelschrei. Merlin fühlte, wie sein Geist fortgerissen wurde in einem zeitlosen Augenblick der Einheit. Dann sank er zurück in seinen Körper, setzte sich auf und blinzelte ins Morgenlicht des Samhain-Tages.
»Ihr Opfer wurde angenommen«, meinte eine Stimme hinter ihm. »Sie sind eins mit dem Land.«
Es war Aurelianus, dessen Antlitz immer noch vor Ehrfurcht glühte. Er wirkte jünger, als Merlin ihn je gesehen hatte, doch zerbrechlich, als loderte der Geist in ihm zu heftig für das Fleisch seines Leibes. Da erkannte er, dass der Kaiser nicht mehr lange zu leben hatte. Uther stand neben ihm und stützte ihn am Ellenbogen.
Dies ist der König, dem ich dienen will, dachte Merlin, bis die Zeit für den Verteidiger kommen wird.
»Eine größere Ehre könnten sie nicht verlangen«, sagte Uther, »ebenso wenig wie ich.«
Von jenem Tage an ritt Merlin mit Uthers Gefolgschaft. Während Aurelianus zurück nach Venta reiste, um die Verteidigung Britanniens entlang der neuen Grenze zu leiten, marschierte sein Bruder gen Demetia. Während die Combrogi alle Aufmerksamkeit der Verteidigung ihrer östlichen Gebiete widmeten, nutzten die Pikten und Skoten – die uralten Feinde – die Gunst der Stunde und nahmen ihre Angriffe wieder auf. Verstärkt wurden sie von einer Bande Sachsen unter der Führung von Pascentius, der im Jahr zuvor von Amlodius besiegt worden war und in Erin Zuflucht gesucht hatte.
Eine Zeit lang schien es, als kämpfte der Himmel selbst auf der Seite der Feinde, denn Wolken rollten von Westen herein, Regen überschwemmte Pfade und verlangsamte den Marsch des Heeres. Uther hielt sie mit fröhlichen Kraftausdrücken zusammen und
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