Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
größer als sein eigener war. Während sie an der Menge ringsum vorbeizogen, lösten sich Männer der Streitkräfte daraus und schmückten die Tiere mit zusätzlichen Girlanden oder tätschelten einfach nur deren glatte Haut, während sie ihre Gebete murmelten. »Lass mich tapfer kämpfen!« oder »Gib, dass ich viele Feinde töte!« und manchmal »Mögen die Götter mich wohlbehalten nach Hause zurückkehren lassen.«
Als sie die zweite Runde begannen, wurden die Tiere nacheinander in den Hain geführt. Da der Blutgeruch stärker wurde, zeigten sie sich zunehmend widerspenstig, aber als Oesc an der Reihe war, trabte der Ochse brav den ausgetretenen Pfad entlang.
Von den Bäumen hingen bereits die Schädel und Häute der früheren Opfer. Erst jetzt hielt der Ochse mit sich blähenden Nüstern inne und weigerte sich weiterzulaufen, so sehr der Junge auch am Strick zerrte. Während Oesc sich mit dem Tier abmühte, kam leise singend Haedwig mit einem Strauß Eschenblätter herbei. Oesc erkannte Ger, die Rune der Ernte, und Sigel, jene des Sieges. Der Gesang beruhigte den Ochsen und er verharrte reglos, während die Wicce sich um ihn bewegte und mit dem Strauß über seinen Kopf, den Rücken und die Flanken strich.
Nach ihr kam Ceredic mit einem Messer in der Hand. Er schnitt eine Haarsträhne vom krausen Stirnfell des Tieres, trat zurück und hielt sie empor.
»Woden, diesen für dich geheiligten Ochsen opfern wir dir. Nimm ihn an, Vater des Krieges, und gewähre uns den Sieg!«
Die Luft um den Altar knisterte mit der Energie des Blutes, das bereits vergossen worden war. Während der Feldherr sprach, flüsterte der Wind durch die Blätter und wehte Oesc die Strähnen aus der Stirn, und als Ceredic die Finger öffnete, wirbelte er die weißen Haare hinweg.
Haedwigs Finger schlossen sich um Oescs Hand, die den Strick hielt, und der Ochse folgte ihnen zum Altar, wo der Schlächter bereits wartete. Er war ein riesiger, muskelbepackter Mann, und er hielt einen Hammer in Händen. Als der Ochse den Rand der Blutvertiefung erreichte, holte er mit dem Werkzeug aus. Ein lauter, dumpfer Knall ertönte, als der Hammer zuschlug, und der Ochse sank auf die Knie.
Einen Augenblick starrte Oesc das Tier nur an. Dann besann er sich, den Dolch zu ziehen; Haedwig führte seine Hand an die Halsschlagader des Ochsen, und er stieß zu und zog die Klinge hindurch.
Das Tier zuckte zusammen, doch binnen weniger Lidschläge ließ der Strom des Blutes den inneren Druck sinken, und der Atem rasselte in lang gezogenen Stößen aus der durchtrennten Luftröhre. Wie alle anderen hatte Oesc jeden Herbst beim Schlachten geholfen und bei der Jagd Hasen oder Wild den Gnadenstoß versetzt. Der Tod war stets eine ernste Angelegenheit, doch er hatte nie zuvor erfahren, dass der Tod auch heilig war.
»Sprich jetzt dein Gebet«, forderte ihn die weise Frau auf, während sie eine Kupferschale unter den Ochsen hielt, in die das Blut troff.
»Woden, empfange diesen Geist, und erfülle uns mit deiner Seele! Vater des Sieges, geleite meine Männer zurück nach Hause zu ihren Feldern und mich zur Halle meines Großvaters!«
Die Augen des Ochsen wirkten bereits glasig, und Oesc spürte, wie unter seinen Händen das Leben aus dem Fleisch rann gleich Weizen aus einem undichten Sack. Doch auch nachdem der Sack leer war, gab es den Weizen noch, und ihn beschlich das Gefühl, dass des Ochsens Leben nicht ausgelöscht, sondern hinweggesogen worden war.
Dein Fleisch wird uns Macht verleihen!, dachte er. Möge mein eigenes Blut ein ebenso gutes Opfer sein, wenn die Zeit dafür reif ist!
Mittlerweile spritzte das Blut stoßweise hervor. Haedwig ergriff Oescs Arm und zog den Jungen auf die Beine, und während die letzten Tropfen in die Schale tropften, schlangen Männer Seile um die Füße des Ochsen, um ihn zum Häuten und Ausnehmen für das bevorstehende Fest fortzuschleifen. Die Wicce tauchte den Blätterstrauß in das Blut und besprenkelte Oesc, dann reichte sie dem Knaben den Strauß und die Schale.
Nach wie vor benommen, bahnte Oesc sich den Weg aus dem Hain, um die Männer zu segnen, die er zum Sieg zu führen hoffte.
Drei Tage später trafen die Armeen sich unter einem weinenden Himmel zur Schlacht. Die Sachsen bildeten ihren Schildwall am Ufer eines der Flüsse, die zum Sund hinabflossen; sie stemmten die Füße in den schlammigen Boden und beobachteten, wie die britische Reiterei über die Ebene auf sie zuwogte. Anstatt eine durchgehende Linie zu
Weitere Kostenlose Bücher