Britannien-Zyklus 02 - Die Herrin der Raben
hatten. Im Staub vor dem Schrein erblickte er Spuren eines Kampfes. Blut war geflossen – dunkle Tropfen sprenkelten den Boden.
Ein Windhauch strich durch sein Haar und kühlte den Schweiß auf seiner Stirn. Er trat ein.
Die Lampen waren schon kalt, aber auf dem Stein lag noch ein Strauß Sommerastern, daneben der Beißknochen eines Kleinkindes.
»Herrin«, flüsterte er. »Sie sind gekommen, um dir zu dienen. Hättest du sie nicht beschützen können?«
Wasser murmelte melodisch aus der Quelle, dasselbe Lied, das es schon für Kelten, Römer und jene vor ihnen gesungen hatte. Ich bin hier, wie ich immer hier gewesen bin… tuschelte es. Schweig still und wisse…
Doch Oesc konnte nicht zuhören. In ihm braute sich ein heftiger Sturm zusammen, der Geduld und Vernunft gleichermaßen hinwegfegte.
Ein paar rasche Schritte brachten ihn zurück zur Tür und zum verwüsteten Gehöft am Fuß des Schreins. Wulfhere und seine Männer trafen gerade ein. Doch er nahm sie kaum wahr.
»Rigana«, flüsterte er. Das Tosen des Sturmes wurde lauter, obwohl sich kein Blatt regte. »Rigana!«
Alle Vernunft war hinweggefegt von einem gewaltigen Schrei, der die Stille zerriss, als aus ihrem Namen das wortlose Gebrüll eines Berserkers wurde. Brüllend rannte Oesc den Hügel hinab.
Während der nächsten vier Tage blieben sie den Angreifern auf der Spur. Boten galoppierten los, um die Armee zusammenzurufen, während Oesc und seine besten Fährtensucher der Spur folgten.
Das war ein leichtes Unterfangen. Auf ihrem Weg nach Cantuware hatten die Briten weitere Gehöfte überfallen, doch offenbar war ihnen bewusst, dass sie mit Rigana einen Preis wertvoller als jede Beute errungen hatten, und so verloren sie keine Zeit, sie aus den sächsischen Gebieten fortzuschaffen. Die Spur führte zunächst in den Norden von Durobrivae, danach nach Westen entlang der alten Römerstraße.
Für jene, an denen sie vorbeikamen, waren die Angreifer nur das Echo hallender Hufschläge, ein Schemen in der Nacht. Doch als die Kunde sich im Land verbreitete, schlossen sich ihnen Krieger aus den Orten an, die auf dem Hinweg überfallen worden waren. Als Oesc die Grenzen seiner eigenen Gebiete erreichte, umfasste seine Armee über hundert Mann.
Doch der Vorsprung der Briten betrug bereits einen ganzen Tag. Sie hatten kurz vor Londinium die Straße verlassen und waren danach querfeldein geritten, auf Nebenpfaden, die den Sachsen unbekannt waren. Sie trachteten unverkennbar danach, Venta Belgarum ebenso zu meiden wie Londinium, dennoch führte ihr Weg weiter gen Westen.
Eine Woche, nachdem Rigana entführt worden war, ließ Oesc seine Kriegshorde an der britischen Grenze innehalten. Ihre Beute war west- und südwärts nach Dumnonia geflüchtet, und Oesc hatte nicht die Streitmacht, ihnen zu folgen. Doch mittlerweile wusste er, wen er jagte. Die Krieger, die seine Frau und sein Kind geraubt hatten, gehörten zu Cador, dem Fürsten der Cornovii und Feind der Sachsen.
»Was wollt Ihr nun tun?«, fragte Wulfhere. Der anstrengende Ritt über eine ganze Woche hinweg hatte sein Gesicht gezeichnet.
Oesc drehte sich zu ihm um. »Beric.« Er deutete auf einen rothaarigen Burschen auf einem scheckigen Pony. »Deine Mutter war Britin, und du beherrschst die Sprache gut. Ich schreibe eine Botschaft auf Lateinisch, die du Artor überbringen musst. Ich glaube, er hält sich in Demetia auf – die Iren stiften wieder Unruhe. Es ist an der Zeit, ihn an seinen Eid zu erinnern. Rigana und der Knabe sind nur lebendig als Geiseln wertvoll. Ich muss annehmen, dass Cador sie gut behandelt. Aber seinem König wird er sie aushändigen müssen.«
»Und wenn er sich weigert?«
Oesc spürte, wie sich seine Züge vor Wut verzerrten. »Wenn Artor sie nicht für mich zurückholt, dann ist auch mein Eid an ihn null und nichtig. Dann wende ich mich an mein eigenes Volk, an Ceredic und Aelle, und gemeinsam werden wir einen Rachekrieg entfachen, der die Briten ins Meer zurücktreibt!«
X
Mons Badonicus
A.D. 495
Ein forscher Wind blies vom Kanal herauf, und führte den Duft des Meeres mit sich. Oesc holte tief Luft, und einen Augenblick war er wieder sechzehn Jahre alt und auf dem Weg zur Schlacht von Portus Adurni. An deren Ende ich Artors Gefangener war, dachte er und kämpfte aufkeimende Wut nieder, während jener alte Kummer den neuen verstärkte. Rigana und sein Sohn waren nach wie vor Cadors Gefangene.
Während er innerlich um Ruhe rang, redete er sich ein, dies
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