Britannien-Zyklus 03 - Die Herrin von Camelot
kleine Gemeinschaft am Tor zog sich früh zurück; die Gäste, um die Nacht durchzuschlafen, die Nonnen, um sich auszuruhen, bis sie zum Mitternachtsgebet gerufen wurden. Bei Nacht, so hieß es unter den Christen, streune der Teufel durch die Welt, und dann könnten ihn einzig die Beschwörungen der Gläubigen im Zaum halten. Für Igraine hingegen war die Nacht eine Freundin.
Als die Geräusche gleichmäßigen Atems ihr verrieten, dass die anderen Frauen im Gästehaus schliefen, erhob sie sich, schlüpfte in Sandalen und einen Mantel und ging hinaus. Hätte sie jemand aufgehalten und gefragt, wohin sie wolle, hätte sie gesagt, sie müsse zum stillen Örtchen, in Wirklichkeit aber stellte der Obstgarten ihr Ziel dar, wo sie eine Sitzgelegenheit fand, den Ring geflochtenen Haares anlegte, den sie an jenem Vormittag gemacht hatte, und zu singen begann.
Und alsbald, gerade als der Mond sich über die Bäume erhob, öffnete sich die Tür des Gästehauses. Heraus trat eine weiße Gestalt. Igraine redete sich ein, es wäre bloß die Wirkung des Mondlichts auf dem weißen Hemdkleid, dass Gwendivar so leuchtend erscheinen ließ. Dennoch musste sie immerzu über den Glanz nachdenken, der an jenem Morgen von dem Mädchen ausgegangen war.
So oder so, diese Gelegenheit durfte keinesfalls vergeudet werden. Als Gwendivar den Pfad herunterkam, ergriff Igraine ihren Mantel und ging ihr entgegen.
Das Mädchen erschrak, mit weit aufgerissenen Augen, rannte jedoch nicht weg.
»Kannst du auch nicht schlafen?«, erkundigte sich Igraine leise. »Lass uns spazieren gehen. Bei Mondlicht sind die Gärten wunderschön.«
»Ihr seid menschlich.« Es war nicht ganz eine Frage.
»So menschlich wie du«, antwortete Igraine, obwohl sie sich fragte, ob dem, eingedenk dessen, was sie an jenem Morgen gesehen hatte, tatsächlich so war.
»Ihr seid die Königin«, meinte Gwendivar schließlich.
»Die einstige Königin«, entgegnete Igraine, so wie du die künftige Königin bist… Doch es war noch nicht die rechte Zeit, dies laut auszusprechen.
Sie verließen die vom Mondlicht geworfenen Schatten des Obstgartens und schlenderten den Pfad entlang weiter. Der volle Mond leuchtete am klaren Himmel so hell, dass man das Rot der Rosen, die den Weg säumten, vom trüben Grün des Hügels unterscheiden konnte.
»Wohin gehen wir denn?«, wollte Gwendivar schließlich wissen.
»Zur Weißen Quelle. Heute Morgen hast du doch in der Toten Quelle gebadet, nicht wahr? Der Blutquelle? Vermutlich wusstest du nicht, dass es hier am Tor noch eine andere gibt.«
»Die Blutquelle?«, wiederholte das Mädchen. »Darum also, dachte ich…« Gwendivar senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich dachte, mein Blut hätte wieder zu fließen begonnen und das Wasser rot gefärbt.«
»Sie hätten es dir erklären sollen«, meinte Igraine scharf. »Das Wasser ist eisenhaltig, genau wie unser Blut. Haben sie dir eingeredet, es würde deine Sünden abwaschen? Früher haben Maiden hier gebadet, um ihren weiblichen Zyklus herbeizuführen. Auch unfruchtbare Frauen kamen her, auf dass ihre Leiber so fruchtbar würden wie die Quelle.«
»Ich habe ein Prickeln gespürt… überall am Körper«, sagte Gwendivar. »Ich vermute, meine Mutter wird mich jetzt verheiraten wollen. Sie ist ausgesprochen ehrgeizig. Aber ich bin noch nicht bereit dafür.«
»Tja – « Igraine wusste nur allzu gut, was es hieß, als junges Ding mit einem älteren Mann verheiratet zu sein. Doch für Töchter von Fürsten galt eine lange Jugend als Luxus. Und wie lange konnte Artor noch warten, ehe seine Berater ihn zwangen, sich eine Braut zu nehmen? »Glaubst du, du wirst bereit sein, wenn du fünfzehn bist?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Das ist das Alter, in dem meinem Bruder gestattet wurde, in die Schlacht zu reiten.«
»Es ist das Alter, in dem mein Sohn König wurde…«
»Das war vor langer Zeit«, meinte Gwendivar.
Igraines Mut sank. Was führten die Götter im Schilde? Wieso ließen sie Artor so viele Jahre auf seine vorherbestimmte Braut warten? Schweigend ging sie den Pfad zum zweiten Tor voraus und führte Gwendivar zu dem kleinen Platz, wo die Weiße Quelle aus dem Boden sprudelte.
»Wofür ist diese Quelle gut?«, wollte das Mädchen wissen.
»Es heißt, sie beschert Hoffnung und Heilung. Du bist zwar gesund, aber manchmal braucht auch der Geist Hei lung. Lass das Wasser in diese Schale fließen, dann halt es hoch, damit das Licht des Mondes sich darin
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