Brixton Hill: Roman (German Edition)
Offenbar hatte er beschlossen, ihr eine Nachricht zu schicken, die sie nicht mehr ignorieren konnte.
Wenn er also reden wollte – das konnte er haben.
Em hatte lange und hart an sich arbeiten müssen, um ihr explosives Temperament in den Griff zu bekommen. Erst einen Schritt zurücktreten, die Lage analysieren, dann zur Tat schreiten. Ruhig und überlegt. Jeder, der sie in den letzten zehn Jahren kennengelernt hatte, würde schwören, dass es so gut wie nichts gab, das Em aus der Ruhe bringen konnte. Ihren inneren Vulkan hatte sie stillgelegt. Doch seit sie gesehen hatte, wie Kimmy aus dem Fenster im fünfzehnten Stockwerk des Limeharbour Towers gesprungen war, brodelte es wieder unter der Oberfläche.
Und so hatte Em ihrer Wut auf Alan, der ihr nun schon seit Monaten nachstellte und ihr das Gefühl gab, keine Minute mehr unbeobachtet zu sein, nachgegeben und sich auf den Weg nach Brixton gemacht. Em konnte nur noch daran denken, Alan zu schlagen. Ihn, wenn es sein musste, an den Haaren zur nächsten Polizeistation zu schleifen. Ihm wehzutun. Sie hatte keine Angst vor ihm. Sie glaubte nicht, dass er wirklich vorgehabt hatte, jemanden zu verletzen.
Aber er hatte es getan.
Erst als sie nun langsam nüchterner wurde und die Seitenstraße suchte, in der Alan wohnte, fiel ihr ein, dass er möglicherweise gar nicht zu Hause war. Mit ihrem unüberlegten Tweet hatte sie ihn vorgewarnt. Er würde denken, die Polizei sei hinter ihm her, und abhauen. Vielleicht war er sich seiner Sache auch so sicher, dass er einfach nur abwartete, was als Nächstes geschah.
Em sah einen Wegweiser zur Brixton Windmill. Das sagte ihr etwas. Sie bog in die Seitenstraße ein, stellte dann aber nach zweihundert Metern fest, dass es hier nicht sein konnte. Zurück zur Hauptstraße, den leicht ansteigenden Hügel hinauf, bis das Hinweisschild auf das Gefängnis kam. Dort kam sie nicht weiter. Eine Schranke markierte den Anfang des Gefängnisgeländes. Sie drehte um, überquerte die Straße, versuchte es auf der anderen Seite, doch dort wirkten die Häuser recht bürgerlich und die Vorgärten gepflegt, zu gepflegt für das, woran sie sich zu erinnern glaubte.
Em suchte weiter. Im Zickzack ging sie die Straßen entlang, wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war, bis sie endlich ihr Ziel erreicht hatte: Alans Haus.
Hier war es. Hier stand das verkommene Reihenhaus, eingequetscht zwischen die anderen Häuschen. Sie alle hatten handtuchbreite, vernachlässigte Vorgärten. Einige davon dienten als Ablageplatz für Müllsäcke, andere beheimateten Sperrmüll, und in manchen standen Fahrräder, die nicht erkennen ließen, ob sie noch fahrtüchtig waren oder nicht. In wenigen der Häuser brannte Licht, und hinter den Fensterscheiben konnte man keine Zimmer ausmachen, die darauf schließen ließen, dass die Bewohner sich Mühe gaben, ein nettes Zuhause zu schaffen. An allen Gebäuden auf dieser Straßenseite hingen Transparente mit Aufschriften wie Das ist unser Zuhause und Wir lassen uns nicht vertreiben .
Das vordere Wohnzimmer in Alans Haus war hell erleuchtet. Sie klopfte an die Tür, und sofort hörte sie Schritte. Sie hatte Alan erwartet, weil sie vergessen hatte, dass er sich das Haus mit jemandem teilte. Deshalb wich sie erschrocken einen Schritt zurück, als sie vor einem hochgewachsenen Schwarzen stand, etwa Ende zwanzig, mit kurz rasiertem Haar. Ein junger Don Cheadle.
»Buh«, sagte er und klang belustigt.
»Sorry«, sagte Em. »Ich hatte Alan erwartet.«
»Du willst zu Alan?«
»Ich weiß, es ist spät. Aber ich muss mit ihm reden.«
»Wow.« Er nickte beeindruckt. »Da denkt man, es gibt Telefon und Internet, und niemand macht sich mehr die Mühe, leibhaftig irgendwo zu erscheinen, und dann so was. Spät am Abend.«
Sie sah ihn ruhig an. »Ich hab dich wohl kaum geweckt.«
»Richtig. Ich sag Alan Bescheid. Warte hier.« Er bat sie nicht herein, ließ aber die Haustür offen, während er zur Treppe ging und nach oben brüllte: »Alan, eine Frau! Für dich!«
Sie konnte nicht verstehen, was Alan antwortete.
Sein Freund lachte. »Nein, ich verarsch dich nicht.«
Wieder Gemurmel von Alan.
»Groß, weiß , schwarzer Ledermantel, kurze Haare, Oberschichtenakzent, dein Alter, und nein, sie will kein Geld.« Mit einem Grinsen wandte er sich Em zu und sagte entschuldigend: »Er hat nie Besuch.«
»Danke fürs jünger Schätzen«, sagte Em trocken.
»Nicht sein Alter?«
»Älter.«
»Und du willst wirklich zu Alan?
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