Brixton Hill: Roman (German Edition)
wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte: Alans krankes Verhalten, sein offenkundiger Wahnsinn … Er hatte ihr gedroht. Er hatte gesagt, sie sei in Gefahr, und dass er noch ein, zwei Tage brauche. Dass sie nicht zur Polizei gehen solle, weil man der nicht trauen kann.
Sie überlegte. Wenn sie wegrannte, würde ihn das wütend machen. Sie war schon einmal vor ihm weggerannt, jedenfalls könnte er es so auslegen. Sie könnte seinen Mitbewohner um Hilfe bitten. Allerdings ging keine direkte Bedrohung von Alan aus. Er hatte kein Messer in der Hand, und alles, was er gesagt hatte, konnte er leugnen oder umdeuten. Abgesehen davon war ihr nicht klar, wie gut Alan und sein Mitbewohner sich kannten. Am Ende war dieser Jay genauso verrückt. Also musste sie eine andere Strategie wählen. »Alan, pass auf, ich bin gerade entsetzlich müde. Es ist sehr wichtig und interessant, was du sagst. Ich fahre jetzt nach Hause und lese noch einmal in Ruhe deine Mails durch. Einverstanden?«
Er machte einen Schritt auf sie zu. »Du kannst sie auch hier lesen. Ich kann dir … ich kann sie dir ausdrucken, wenn du nicht am Bildschirm lesen magst. Manche Leute lesen ja lieber auf Papier.« In demselben Tonfall hätte er auch sagen können: Manche Leute tanzen gern nackt durch Maisfelder. »Willst du nicht doch etwas trinken, wenn du noch länger bleibst?«
»Oh, vielen Dank, aber …« Sie improvisierte. »Mein Bruder wartet draußen im Auto auf mich, und … er muss morgen früh raus. Okay?«
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee war, Eric alles zu erzählen«, sagte Alan kopfschüttelnd.
»Dann sage ich ihm ab jetzt einfach nichts mehr, einverstanden?«
»Das ist besser. Für dich.«
»Wie du willst.« Sie stand auf und ging rückwärts aus der Küche, ohne Alan aus den Augen zu lassen. »Mach dir keine Umstände, ich finde allein raus.«
Als sie die Haustür hinter sich zugeschlagen hatte, rannte sie die Straße entlang zur Hauptstraße. Sie hatte Glück, ein Taxi kam vorbei und nahm sie mit.
Es war eine schwachsinnige Idee gewesen, Alan allein zu konfrontieren. Sie hätte abwarten und der Polizei von ihrem Verdacht erzählen sollen. Sie war sogar ohne Telefon losgegangen. Wenn das Taxi nicht vorbeigekommen wäre, sie hätte sich nicht mal eins rufen können. Was, wenn Alan ihr gefolgt wäre?
Em drehte sich um und sah durch die Heckscheibe. Eine immer kleiner werdende Gestalt stand regungslos mitten auf der Straße. Schnell sah sie wieder nach vorne. Sie waren schon fast auf Höhe der U-Bahn-Station, als Em fragte: »Wie heißt diese Straße hier eigentlich?«
»Oh, das ist der älteste Teil von Brixton. Vor zweihundert Jahren gab es hier die ersten Häuser. Sonst nur Sümpfe und Felder«, sagte der Fahrer. »War dann irgendwann sogar ’ne gute Gegend, aber das ist lange her. Da erinnert sich keiner mehr dran. Wie die Straße heißt? Wie der Hügel. Wir sind auf dem Brixton Hill.«
Kapitel 9
Z urück auf der Isle of Dogs und mit dem Fahrstuhl in die Wohnung im einundzwanzigsten Stock des Isle Towers, der vor einem Jahr am South Quay hochgezogen worden war und vor lauter Luxus und Komfort nur so schimmerte, Tag und Nacht. Den Laptop starten, um nach Mails zu suchen, die sie vor Tagen, vor Wochen in den Papierkorb verschoben hatte.
Alle unwiderruflich gelöscht. Keine einzige ließ sich auffinden.
Keine einzige.
Em ging auf Facebook und durchsuchte dort die Nachrichten. Donny Doyle, von dem sie glaubte, dass Alan dahintersteckte, hatte ihr nichts von Belang geschrieben. Auch auf Twitter: keine Nachrichten, die von Alan sein konnten. Sie würde nie erfahren, was er ihr geschrieben hatte. Es sei denn, sie fragte ihn.
Vielleicht hatte er seine Tat angekündigt. Vielleicht gab er Hinweise auf das, was er als Nächstes vorhatte.
Ich bin noch nicht ganz fertig. Alans Worte.
Sie hätte seine Scheißmails lesen sollen. Oder wenigstens aufheben. So hatte sie nichts in der Hand, wenn sie zur Polizei ging.
Die Detectives könnten Alans Computer untersuchen lassen, aber was würde das bei jemandem wie ihm bringen. Er hatte ihr angeboten, die Mails auszudrucken. Sie hätte das Angebot annehmen sollen. Aber sie hatte Angst bekommen – vor dem blassen, schlaksigen Jungen, der ihr nicht einmal richtig in die Augen sehen konnte. Dabei hatte sie gedacht, dieses schwächende Gefühl überwunden zu haben. Em schämte sich, ärgerte sich, dass sie so feige weggelaufen war. Sie hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Statt Beweise
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