Brixton Hill: Roman (German Edition)
ihr.
Wirklich Alan?
Einer der Sanitäter legte ihr eine Decke um die Schultern. Wieder eine Decke, die zweite in vierundzwanzig Stunden, aber diesmal konnte sie sie gebrauchen. Sie stand auf dem Balkon des Hochhauses, in dem sie wohnte, es war Ende März, und sie war nur mit ihrem BH, einem kurzen Rock, Strumpfhose und Stiefeln bekleidet. Der Pullover lag klamm und zusammengeknüllt auf dem Boden. Auf ihm hatten sich Scherben der Sicherheitsverglasung gesammelt.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie den Sanitäter. »Er war ohnmächtig, er braucht Sauerstoff, nicht wahr?«
Der Sanitäter sah sie an, ließ ihre Schultern, um die er die Decke gelegt hatte, nicht los.
Sie sah auf Eric, der dort mit der Beatmungsmaske lag, während drei Leute um ihn herumknieten. Sie sah durch die zerschmetterte Balkontür. Die Sprinkleranlage gab ihr Bestes. Das Feuer hatte sich nicht in Erics Schlafzimmer ausgebreitet. Im Wohnzimmer waren die Flammen eingedämmt. Die letzten Brandherde würden in wenigen Minuten erloschen sein.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie den Sanitäter wieder, als sie sah, dass sich Eric immer noch nicht regte.
Der Sanitäter sagte nichts.
Der Notarzt nahm die Maske von Erics Gesicht.
Er drehte sich zu Em um, sah sie an und schüttelte den Kopf.
30. MÄRZ 2013
Kapitel 10
D ie wenigsten Stalker werden gewalttätig, sagen die Statistiken. Nur dass man nicht über Statistiken nachdenkt, wenn man gestalkt wird. Stalking beginnt schleichend und leise. Man bemerkt es erst, wenn es schon zu spät ist. Jemand schreibt Mails. Oder ruft an. Oder begegnet einem zufällig. Erkundigt sich bei Freunden. Weiß, wo man wohnt, und steht auch mal auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Eines Tages ist die Grenze dann überschritten. Und diese Grenze definiert jeder für sich selbst, was es schwierig macht zu erkennen, wann es dazu kommen wird. Oder ob überhaupt. Wenn sie überschritten ist, gibt es kein Zurück. Für beide nicht.
Und so ist es auch mit der Angst. Anfangs denkt man noch: Es ist normal, Angst zu haben. Oder: Es geht auch wieder vorbei mit der Angst. Irgendwann hat sie sich ganz heimlich in einer Ecke im Gehirn festgesetzt, ganz tief und im Dunkeln, von wo sie ab sofort immer öfter hervorkriecht. Sie lässt sich nicht aufhalten. Die Angst wird zum ständigen Begleiter. Sie agiert aus dieser stillen, dunklen Ecke. Sendet Signale, dass es gleich wieder losgeht. Man lernt, die Signale zu erkennen, und man weiß, dass man nichts tun kann. Der Herzschlag verändert sich. Die Atmung wird schneller und flacher. Die Magennerven reagieren. Alle physischen Funktionen sind auf Flucht geschaltet. Adrenalin wird ausgeschüttet, zu viel davon. Aber fliehen geht nicht. Es gibt kein Wohin. Oft nicht einmal ein erkennbares Wovor. Ein Blumenstrauß, eine Mail, ein Anruf – wie soll man sich da entziehen? Die Angst bekommt nicht, was sie dem Körper abverlangt. Sie will mehr. Aus Angst wird Panik. Panik lässt sich nicht kontrollieren.
Es sei denn, man lässt sich behandeln.
Dabei ist es der andere, der Unnachgiebige, der die Therapie bräuchte.
Manche Leute sagen: Geh hin und rede mit ihm. Das lässt sich doch klären.
Nichts lässt sich klären.
Diese Leute hatten noch nie Angst. Sie wurden noch nie gestalkt. Sie bekommen keine Magenschmerzen, wenn auf einem Briefumschlag kein Absender steht. Sie haben kein Herzrasen, sobald das Telefon klingelt und auf dem Display eine unbekannte Nummer angezeigt wird. Ihnen bricht bei dem Gedanken, die Mails zu checken und auf eine dieser Nachrichten zu treffen, nicht der Schweiß aus.
Solche Leute sagen: Na ja, Angst kenne ich auch … wenn nachts komische Geräusche in der Wohnung zu hören sind … oder im Treppenhaus das Licht ausgefallen ist, und jemand kommt einem entgegen …
Aber das ist nicht dasselbe.
Angst hat eine Funktion für den Menschen: Bei Gefahr soll er zur Flucht bereit sein, gewarnt sein, geschärfte Sinne haben. Wenn sich die Angst verselbstständigt, spielen Kopf und Körper verrückt. Und für jeden, der zuschaut, ist man verrückt.
Weil sonst niemand sehen kann, wovor man Angst hat.
Und selbst wenn – da ist immer noch die Statistik.
Es gibt keinen Grund für die Angst.
Heißt es.
Em und ihr Bruder Eric waren sich nie besonders ähnlich gewesen. Niemand hätte sie für Zwillinge gehalten, nicht einmal für Geschwister. Vielleicht wäre es anders gekommen, wäre ihre Mutter Ruth vor dreißig Jahren nicht einfach verschwunden. Em konnte sich nicht
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