Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Brixton Hill: Roman (German Edition)

Brixton Hill: Roman (German Edition)

Titel: Brixton Hill: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoë Beck
Vom Netzwerk:
erinnern, an welchem Tag sie genau gegangen war, nur daran, dass sie eben auf einmal nicht mehr da gewesen war, ihr Vater aber immer viel von ihr sprach, wie um die Erinnerung wach zu halten. Echte Erinnerungen, die die Kinder an sie gehabt haben mochten, wurden überlagert von den steten Erzählungen des Vaters und formten sich zu einer unüberprüfbaren, neu gestalteten Konsensrealität. Ruth Vine existierte für ihre Kinder Emma und Eric nur noch virtuell. Ihr Vater Sebastian ging am Anfang sogar so weit, den beiden zu erzählen, ihre Mutter sei geschäftlich auf Weltreise, habe aber in der Nacht angerufen, um sich nach ihnen zu erkundigen. Oder ein Paket geschickt mit Geschenken (die er natürlich selbst besorgt hatte, wie sich später herausstellen würde). Mit Ruth Vine passierte das, was auch mit Weihnachtsmännern und Osterhasen passiert: Eines Tages wachten die Kinder auf und wussten, dass es sie nicht gab. Sie mussten sich nur noch überlegen, wie sie es ihrem Vater schonend beibrachten.
    Bis sie zehn waren, wuchsen sie mehr oder weniger bei ihrer Großmutter Patricia im West End auf, weil ihr Vater viel unterwegs war. Sie hatten in dem großzügigen Stadthaus eine ganze Etage für sich, es gab Hausangestellte, und Geld spielte eine große Rolle. Nicht zuletzt, weil eben Patricia Everett eine der größten Privatbanken des Landes gehörte.
    Ihr Vater, ein Architekt, hatte viel im Norden Englands zu tun. Er stammte aus der Gegend, hatte dort studiert und sich anschließend – auch wegen seiner Frau Ruth – eigentlich nach London orientieren wollen. Die meisten Verbindungen hatte er allerdings noch in seiner Heimat. Später holte er die Zwillinge in den Norden, um sie dort in Internate zu schicken. Eric meldete er an der Durham School an, die auch er besucht hatte. Zu der Zeit war die Durham School ausschließlich für Jungen zugänglich. Em kam an die Central Newcastle High School, eine reine Mädchenschule. Obwohl Durham und Newcastle nicht weit voneinander entfernt waren, sahen sich die Geschwister nur in den Ferien. Mit jedem Jahr wurden sie sich fremder. Als sie zum Studium nach London ging, fing er in Oxford an. Während dieser Zeit vergingen sogar Jahre, in denen sie sich nur an Weihnachten bei ihrer Großmutter begegneten. Bis vor drei Jahren ihr Vater starb und sie sich wieder öfter sahen. Um dann schließlich zusammenzuziehen.
    Das Einzige, was sie als Zwillinge miteinander verband, war der Verlust ihrer Eltern, dachte Em manchmal. Sie wusste, dass sie ungerecht war, und sie wusste auch, woher es kam: aus Neid auf Eric. Sie mochten sich so weit gut verstehen, aber Em stand innerhalb der Familie stets in seinem Schatten. Immer die besseren Noten in den Fächern, auf die es angeblich ankam im Leben, immer der scheinbar Begabtere von den beiden, weil er nicht nur ein hervorragender Sportler, sondern auch noch internationale Wettkämpfe für seinen Debating Club gewann, immer der Liebling, der sich mit Leichtigkeit an sein Umfeld anpasste und von allen mit offenen Armen empfangen wurde.
    Ganz anders als Em.
    Als Em verstanden hatte, dass ihre Mutter nie mehr zu ihr zurückkehren würde, war die Angst zu ihrer ständigen Begleiterin geworden. Sie hatte Angst vor der Dunkelheit bekommen. Angst, allein in einem Raum zu sein. Angst, die Augen zu schließen. Angst, es könnte jeden Moment jemand durch die Tür kommen und ihr etwas Schreckliches antun. Angst vor Monstern unter dem Bett und Einbrechern und Fremden, Angst vor Tieren, vor Gewittern, vor Stürmen. Aber am schlimmsten war die Angst, nicht geliebt zu werden. Und die Angst, einfach zu sterben und nicht zu wissen, wo ihre Mutter war.
    Doch schon als Kind hatte Em die Angst nicht zulassen wollen. Angst konnte man sich abtrainieren, wenn man nur früh genug damit anfing, und doch würde sie immer wieder einen Weg finden, sich in ihr Leben zurückzuschleichen. Mit dreizehn hatte Em unter schweren Depressionen gelitten. Tagelang hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen, die meiste Zeit nur im Bett gelegen und keine Kraft gehabt, sich aufzuraffen. Die Angst war zurückgekommen und hatte sich auf ihre Brust gesetzt wie ein schweres Tier, bis sie kaum noch hatte atmen können.
    Dem inneren Druck war sie mit Rasierklingen begegnet, mit denen sie sich die Beine aufgeritzt hatte. Nach einer intensiven Behandlung, erst durch die Schulpsychologin, dann durch einen dreimonatigen Psychiatrieaufenthalt, war es besser geworden, und Em hatte wieder gelernt, mit ihrer

Weitere Kostenlose Bücher