Brixton Hill: Roman (German Edition)
steigendem Puls auf jede neue Nachricht, spürte, dass sie gerade Zeugin von etwas wurde, das in eine andere Welt führte.
In die von Anonymous.
Auf dem dritten Monitor sah Em die Homepage von Braidlux. Jay gab weiter ihr sich nicht erschließende Zahlenreihen in eine Maske ein. Dann tippte er bei Twitter:
#opbraidlux TANGO DOWN braidlux.co.uk
Die Homepage der Baufirma änderte ihr Gesicht. Die Fotos von glänzenden, modernen Hochhäusern und schö nen weißen Luxusmehrfamilienhäusern waren verschwu nden. Nun stand dort nur: »Seite nicht gefunden.«
Jay wechselte auf Facebook und loggte sich ein. Als Benutzername stand dort: Braidlux. Er ging auf die Seite – offenbar wollte sich die Immobilienfirma mit der Facebookpräsenz modern und nah am Menschen zeigen – und änderte das Titelbild. Er hatte bereits ein neues vorbereitet, das er hochlud. Kurz darauf stand in großer Schrift neben dem Firmenlogo:
»Wir fördern Obdachlosigkeit. Wir zerstören Heimat. Wir bringen Sie ins Gefängnis. Willkommen bei Braidlux Constructions.« Im Hintergrund ein Mann im Anzug, dessen Gesicht von einer Guy-Fawkes-Maske verdeckt war.
Dem Twitterstrom nach zu urteilen, bekam Jay eine Menge Reaktionen. Immer wieder hieß es:
TANGO DOWN #opbraidlux
Und:
Fb hacked #opbraidlux
Em sagte: »Wie viele sind das?«
»Viele«, sagte er nur, rollte mit dem Bürostuhl zurück und drehte sich zu ihr. »Schockiert?«
Sie schüttelte den Kopf. »Warum steht da was von Gefängnis?«
»Weil letztens ein Mann festgenommen wurde. Er wollte sein Haus nicht verlassen. Er ist darin geboren und aufgewachsen. Er kennt nichts anderes. Sie wollten ihn umsiedeln nach Croydon. Er sagte: Da kenne ich nie-manden.«
»Hat man ihm denn kein Geld geboten, so wie dir?«
»Ihm gehörte das Haus nicht mehr. Zu viele Schulden, was weiß ich. Jedenfalls wollten sie ihn in irgendeine Sozialwohnung stecken, und weil in Brixton wohl gerade nichts frei war, dachten sie: Croydon ist doch auch ganz nett.«
»Und da ist er lieber in den Knast?«
»Verstehst du nicht, hm?«
Sie ging zur Couch und setzte sich. »Das ist doch kein Grund.«
»Für ihn war’s einer. Er hatte nichts mehr zu verlieren.«
Em schüttelte den Kopf. »Weswegen haben sie ihn denn verhaftet?«
»Er hatte dort kein Wohnrecht mehr, wie es so schön heißt. Er wollte nicht gehen. Er hat sich an der Heizung festgekettet und gesagt, er tritt in den Hungerstreik. Als sie ihn losgemacht haben, hat er einen Bullen angegriffen.«
»Ich versteh’s nicht.«
»Kannst du mit dem Begriff Heimat etwas anfangen? Offenbar nicht. Ich bin zwar nicht in diesem Haus geboren, aber ich lebe hier schon sehr lange. Meine Eltern haben es gekauft, und nachdem sie gestorben sind, habe ich die Kredite und das alles übernommen. Sie waren wahnsinnig stolz darauf, ihr eigenes Haus in London zu haben. Beide waren Auswandererkinder. Die Eltern von meiner Mutter waren Jamaikaner mit afrikanischen Wurzeln. Mein Großvater väterlicherseits war Kenianer, seine Frau auch Jamaikanerin. Sie leben alle nicht mehr. Meine Eltern sind gestorben, da waren sie noch nicht ganz sechzig. Sie haben mir nichts hinterlassen außer einem Haus mit einer Menge Schulden. Die Schulden hatten sie, weil sie ihr ganzes Geld in meine Ausbildung gesteckt haben, damit ich in eine gute Schule gehen und studieren kann. Dieses Haus ist alles, was ich von ihnen noch habe. Ihre Schulden sind in Wirklichkeit meine Schulden. Es gibt noch ein paar Kisten mit Andenken, ja, aber sonst nur dieses Haus. Und jetzt soll ich ausziehen?«
»Es ist nur ein Haus«, sagte Em.
»Es ist mehr«, sagte er. Er drehte sich kurz um und schaltete den Bildschirm aus, der die Seite mit der Fehlermeldung von Braidlux Constructions zeigte. »Es ist ein Symbol. Meine Eltern haben sich etwas erschaffen. Einen Platz in diesem Land und in dieser Gesellschaft. Sie haben mir ermöglicht, was sonst nur in weißen, reichen Familien möglich ist. Und jetzt soll dieser Platz wieder freigemacht werden für weiße, reiche Familien? Vergiss es.«
Seine Brandrede erklärte immerhin, warum er solche Schwierigkeiten mit ihr hatte.
»Alles klar«, sagte sie. »Und ja, du hast recht.«
»Ich weiß.«
»Hast du das damit gemeint, als du gesagt hast, du müsstest dich jetzt mal um Braidlux kümmern?«
»Ja. Auch.«
»Was noch?«
Jays Blick glitt zu dem Bildschirm, der Twitter anzeigte. Er lächelte. Offenbar feierten ihn seine Anonymous-Freunde immer noch. »Erinnerst du dich, was
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