Brixton Hill: Roman (German Edition)
Zeichen dafür gewesen, dass sie langsam nicht mehr konnte. Jetzt hatte es nur noch einer Kleinigkeit bedurft. Einer Sache, die ihre Synapsen durchbrennen ließen. Em verstand nicht, warum es eine Verbindung gab zwischen Kimmys und Erics Tod, Braidlux und ihrem Onkel Frank. Sie konnte keine logische Schlussfolgerung ziehen.
Wenn sie nicht weiterwusste und ihre Synapsen zu zerreißen drohten – so jedenfalls fühlte es sich für sie an –, suchte sie nach einer Möglichkeit, den Druck loszuwerden. Der einzige Ausweg, der ihr hilfreich erschien, war etwas, das sie vor zwanzig Jahren getan hatte, wenn sie nicht mehr darüber nachdenken wollte, warum ihre Mutter sie verlassen hatte und warum sie sie deshalb nicht einmal hatte hassen können. Em wusste natürlich, dass es kein wirklicher Ausweg war. Aber sie glaubte sich zu erinnern, dass es geholfen hatte. Für ein paar Minuten nur, aber da hatte es geholfen. Deshalb hatte sie es ja immer wieder getan. Ein paar Minuten, in denen der Druck nachließ und der Schmerz überdeckt wurde von anderem Schmerz.
Ohne ein Wort stand Em auf und ging aus Jays Zimmer, rannte die Treppe rauf ins Badezimmer und schloss sich dort ein. Sie suchte eine Weile, bis sie etwas Geeignetes fand: eine kleine Nagelschere. Rasierklingen wären ihr lieber gewesen, aber Jay benutzte offenbar nur einen elektrischen Rasierer. Wäre keine Schere dort gewesen, sie hätte wahrscheinlich den Spiegel kaputt geschlagen, um eine Scherbe zu benutzen, also war die Schere vielleicht doch keine so schlechte Wahl.
Nur war sie stumpf. Sie schnitt nicht in die Haut, wie Em es brauchte, und sie wurde nach dem vierten, fünften Versuch wütend, weil der Druck und die Angst größer wurden. Die Innenseite ihres Unterarms war zerkratzt, aber es kam kein Blut, und es tat nicht so weh, wie es musste. Der Schmerz aus ihrer Erinnerung wirkte nämlich wie ein Ventil, durch das der Druck entwich. Der Schmerz breitete sich gleichmäßig in ihrem Körper aus und ließ alles andere unwichtig erscheinen. Der Schmerz war in diesem Moment alles. Em saß auf dem Boden, legte die Hand flach auf den Klodeckel und stieß mit aller Kraft die Schere in ihren Handrücken.
Da war er. Durchfloss ihren Körper, rannte über ihre Synapsen, schaltete sie gleich, setzte alles auf Anfang, gab ihr das Gefühl, die Kontrolle zurückzuhaben. Da war er, der Schmerz, der echte, greifbare, steuerbare Schmerz, den sie sich abgewöhnen musste, weil man ihr gesagt hatte, dass es falsch war, so zu handeln. Sie saß neben der Toilette, sah auf ihre blutende Hand, in der die Schere noch steckte, zitterte zugleich am ganzen Körper, ihr Herzschlag pochte laut in den Ohren. Dann stand Jay vor ihr und schrie sie an. Sie nahm ihn wie durch Panzerglas wahr, hörte ihn kaum, fand nicht, dass er etwas mit ihr zu tun hatte. Em war nicht im selben Universum.
Jay riss ihr die Schere aus der Hand, zog Em hoch, wickelte ein Handtuch um die Wunde und zwang sie aus dem winzigen Bad in den schmalen Flur, wo sie sich auf den Boden legen sollte. Warum auf den Boden legen?
Er nahm ihre Beine hoch und lehnte sie ans Treppengeländer. »So liegen bleiben. Wegen dem Kreislauf. Bleib so liegen. Ich hol Verbandszeug.« Er verschwand im Bad. Sie hörte, wie er sich durch die wenigen Schubladen und Schränkchen wühlte. Sie fühlte sich müde, und gleichzeitig raste ihr Herz. Dann kam er mit Mullbinden und Heftpflastern zurück. Jay nahm ihr das Handtuch ab, betrachtete die Wunde, versorgte sie, so gut er konnte.
»Wir müssen damit ins Krankenhaus«, sagte er. »Wer weiß, vielleicht ist eine Sehne kaputt. Oder ein Nerv. Oder ein größeres Blutgefäß. Oder ein Knochen. Keine Ahnung.«
Er wickelte den Verband um ihre Hand, als wollte er ihr einen Boxhandschuh daraus machen. Als er fertig war, ließ er sich gegen die Wand sinken und atmete tief durch.
»Verdammter Scheiß, wolltest du dich da drin umbringen?« Als sie nicht antwortete, kniete er sich neben ihren Kopf und tätschelte ihre Wange. »Emma? Hierbleiben. Okay? Schön wach bleiben.«
Sie schaffte es nicht. Ihr Herz pumpte zu heftig zu viel Blut, sie konnte nicht so schnell atmen, wie sie glaubte atmen zu müssen, und schließlich verlor sie das Bewusstsein.
»Du hast das absichtlich gemacht?«
Sie wachte auf Alans Bett auf. Jay hatte sie auf eine Art dorthin gelegt, die er für die stabile Seitenlage hielt.
»Ja. Und?«
»Ich musste die Tür aufbrechen.«
Sie hatte nichts davon mitbekommen. »Ich wollte
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