Brockmann Suzanne
nicht einfach so verurteilen. Jedenfalls nicht, bevor er mit ihm gesprochen hatte. Und dann war da noch Blue McCoy. Während des Einsatzes im letzten Sommer hatte Crash den schweigsamen stellvertretenden Commander der Alpha Squad kennen- und schätzen gelernt.
Er hoffte, dass auch Blue sich zuerst seine Seite der Geschichte anhören würde.
Und doch – es schien unwahrscheinlich, dass jemand, den er vor sechs Monaten zum ersten Mal getroffen hatte, sich die Zeit nehmen würde, mit ihm über das Geschehene zu sprechen. Vor allem, wenn man bedachte, dass seine eigenen Teamkollegen, Männer, mit denen er teilweise seit vielen Jahren zusammenarbeitete, offensichtlich bereits ihr Urteil gefällt und ihn für schuldig befunden hatten.
Crash wartete, während die Wächter die Tür entriegelten. Sie schwang auf und …
Das war nicht Cowboy. Und es war auch nicht Blue McCoy.
Von allen Menschen, die er kannte, war Nell Burns die letzte Person, die er hinter der Panzerglasscheibe erwartet hatte.
Aber da saß sie nun, die gefalteten Hände auf dem Tisch.
Sie sah beinahe genauso aus wie damals, als er sie zum letzten Mal gesehen hatte – an jenem Morgen, als sie sein Zimmer verlassen hatte. Nachdem sie die Nacht miteinander verbracht hatten.
Das lag nun beinahe ein Jahr zurück, aber er konnte sich immer noch daran erinnern, als sei es gestern gewesen.
Ihr Haar trug sie immer noch kinnlang, nur ihre Kleidung sah anders aus. Der graue Hosenanzug und die weiße Bluse verdeckten so gut es ging ihre sanften Kurven.
Aber sie musste gar keine sexy Kleidung tragen. Egal, was sie anhatte, Anzug oder Kartoffelsack: Das Bild ihres perfekten Körpers hatte sich für immer in sein Gedächtnis eingebrannt.
Himmel! Das war wirklich lächerlich. Nach all dieser Zeit begehrte er Nell immer noch mehr, als er je zuvor eine Frau begehrt hatte.
Der Wächter zog den Stuhl vor und Crash setzte sich. Er weigerte sich, sich einzugestehen, wie sehr er sie vermisst hatte und wie viel es ihm ausmachte, dass sie sich nun unter diesen Umständen wieder trafen. Mit einem Glasfenster zwischen ihnen, das ihn daran hinderte, ihren Duft einzuatmen. Mit seinen Händen und Füßen in Fesseln, wie bei einem wilden Tier.
Aber es machte ihm etwas aus. Es machte ihm sogar sehr viel aus.
Abstand. Distanz. Er musste beginnen, wie der Mann zu denken, der er nun war. Ein Mann ohne Zukunft. Ein Mann in seinem letzten Einsatz.
Crash kannte nur noch ein einziges Ziel: Er musste den Mann finden und zerstören, der für Jake Robinsons Tod verantwortlich war. Er hatte viel mehr verloren, als nur seinen Oberbefehlshaber. Er hatte einen Freund verloren, der ihm gegenüber immer wie ein Vater gewesen war. Und er hatte alles andere verloren, was ihm sonst noch wichtig war im Leben. Das Vertrauen seiner Teamkollegen. Seinen militärischen Rang. Seine Berufung. Seinen Status als SEAL. Ohne all das war er niemand mehr, ein Nichts.
Er war so gut wie tot.
Aber es war genau diese Tatsache, die ihm jetzt die Oberhand verschaffte im Kampf gegen jenen Unbekannten, der dafür verantwortlich war, dass er in Ungnade gefallen war. Da nichts, was ihm etwas bedeutete, noch übrig war, hatte Crash auch nichts mehr zu verlieren. Er würde seine Mission auf jeden Fall beenden, und wenn es das Letzte war, was er tat. Er war entschlossen, das hier bis zum Ende durchzuziehen, auch wenn es ihn sein wertloses Leben kosten würde.
Als Crash sich setzte und Nell durch das Panzerglas hindurch ansah, wurde ihm die Ironie der Situation erst richtig bewusst. Er hatte wirklich alles getan, damit Nell aus seinem Leben verschwand. Und nun, da er alles andere verloren hatte, schien das Einzige, was ihm geblieben war, ihr Vertrauen zu sein.
Ja, das war wirklich unglaublich ironisch. Sein einziger Verbündeter, die einzige Person, die ihm glaubte, dass er Jake Robinson nicht getötet hatte, war ausgerechnet eine Frau, die allen Grund dazu hatte, nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen.
Und er wusste, dass Nell von seiner Unschuld überzeugt war. Selbst nachdem ein Jahr vergangen war, ohne dass sie sich gesehen hatten, konnte er in ihrem Gesicht immer noch lesen wie in einem offenen Buch.
Er sah Nell.
Er sah Nell, die sich weigerte wegzulaufen.
Er sah Nells Treue und Freundschaft in ihren Augen.
Crash saß einfach nur auf seinem Stuhl und wartete ab.
Sie lehnte sich ein Stück nach vorne. „Das mit Jake tut mir unendlich leid.“
Er hatte gewusst, dass sie das sagen würde. Er nickte.
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