Broken (German Edition)
günstigeren Zeitpunkt irgendwo in der Nähe versteckt», spekulierte ich. «Offenbar hat er das Gebäude beobachtet, kannte den Zahlencode der Eingangstür. Er wird gewusst haben, dass es keine Videoüberwachung gibt. Er wollte die Schusswaffe nicht im Gebäude benutzen, um keinen Lärm zu machen.»
«Er ist vorsichtig», sagte Rauser. «Sogar die Zeitung hat er mitgenommen.» Wir blickten auf den Sessel, in dem ein Mörder gesessen hatte, als würden wir erwarten, dass er uns seine Version der Geschichte erzählte. Rauser setzte sich, nahm eine Zeitung von dem Marmorcouchtisch zwischen den Louis-Quinze-Sesseln. Die Zeitung hatte einen Aufkleber mit dem Vermerk, dass es sich um eine Gratisausgabe für die Lobby handelte. Der Mörder hatte die Zeitung mitgenommen. In Mikis Haus trug er Handschuhe. Er wollte keine DNA-Spuren zurücklassen. Ich fragte mich, ob er die Zeitung tatsächlich gelesen hatte, ganz entspannt, um die Wartezeit zu überbrücken. So was kommt vor. Manche Täter haben nicht mal erhöhten Blutdruck, während sie ein Verbrechen begehen. War so ein Monster auf Miki fixiert? Er hatte getötet, um sie zu schocken, in Panik zu versetzen. Vielleicht phantasierte er davon, dass er sie auf diese Weise gefügig machen oder rumkriegen könnte. Ich wusste noch nicht, was seine Motive waren.
Ich trat nach draußen und kam wieder durch die Tür herein, blickte kurz zu Rauser im Sessel hinüber, ging zu den Aufzügen, drehte mich wieder zu ihm um. Die Zeitung war oben.
«Was siehst du?», fragte Rauser.
«Kleidung, Stirn, Haar. Hab kurz dein Profil gesehen, aber der Mörder kann sich auch abgewendet haben.»
Rauser faltete die Zeitung zusammen, warf sie zurück auf den Tisch und ging durch die Lobby. Er spähte aus einem Fenster. «Von hier aus hat man den Parkplatz im Blick. Vielleicht hat er sie kommen sehen. Dann geht er zu dem Sessel und wartet. Kelly ist alt, und mit dem Fahrer ist auch nicht viel los, über sechzig, übergewichtig. Kein großes Problem, sie zu überwältigen.»
«Wir müssen das Umfeld der Tat abklären. Wann und wie hatte Kelly erstmals mit dem Täter zu tun? Bestand eine frühere Beziehung?»
«Ich sage, er hat sich Kelly vorher ausgeguckt. Irgendwas an dem alten Mann passte genau in den Plan des Täters. Vielleicht ging es ihm auch nur darum, Miki ein möglichst entsetzliches Szenario zu bieten. Ich meine, so einen Anblick vergisst man nie wieder. Ganz schön dramatisch. Ich frage mich, warum er kein Kind genommen hat. Wäre leichter gewesen, körperlich.»
Ein Gedanke durchschoss mich wie ein Stromstoß. «Siebenundsiebzig Jahre zwischen ihnen», sagte ich. «Ich kapiere das nicht.»
«Zwischen wem? Was kapierst du nicht?»
«Donald Kelly hatte Geburtstag», sagte ich.
«Und?»
«Was ist mit Troy Delgado? Er hatte nicht zufällig Geburtstag, oder?»
«Nein, hatte er nicht.»
«Nein, hatte er nicht», wiederholte ich nachdenklich. «Hast du die Fotos dabei?»
Rauser zog die Abzüge aus der Brusttasche. Ich ging sie einzeln durch, verharrte bei einer Totalaufnahme von der Leiche mit ihrer Umgebung – die Kiefernnadeln, der herumliegende Abfall, die geballte Faust, die ausgestreckten Finger. Ich zeigte es Rauser.
«Irgendwas an dieser Szene hat mir keine Ruhe gelassen. Gerade eben bin ich draufgekommen.» Ich deutete auf das rote Plastik, das neben der Leiche lag, fünf Zentimeter lang, leuchtend auf dem Sandboden, keine Verfärbung. «Alles andere gehört da hin. Das ganze Zeug auf dem Boden würde man in der Nähe einer Baustelle erwarten – Servietten, eine Fastfood-Verpackung, ein Becher und ein Strohhalm, Zigarettenstummel. Das da ist ein Luftballon. Der gehört da nicht hin. Genau wie das Geschenkpapier in Donald Kellys Tasche.»
Rauser starrte mich perplex an. «Kelly hatte Geburtstag, Keye.»
«Aber er hat es nicht auf seine Geburtstagsparty geschafft. Wieso hatte er dann Geschenkpapier in der Hosentasche?»
«Vielleicht hat einer im Seniorenheim ihm was geschenkt.»
«Und er packt das Geschenk aus und steckt das Papier ein?»
Rauser zuckte die Achseln. «Dann war er eben ein sentimentaler Bursche.»
«Möglich», sagte ich skeptisch.
«Du hast doch eben selbst gesagt, dass die beiden Opfer siebenundsiebzig Jahre auseinander waren. Was soll es da für eine Verbindung geben?»
«Ich weiß nicht», gestand ich frustriert ein. «Oder was das alles mit Miki zu tun haben könnte.» Ich hatte Rauser schon oft davor gewarnt, sich bei der Arbeit vom Bauchgefühl
Weitere Kostenlose Bücher