Broken (German Edition)
und deren Urne hier auf der Arbeitsplatte stand. Ich nahm die Aktenmappe heraus und klappte sie auf. Dieselbe Pose und dieselben Requisiten wie auf den anderen Fotos von toten Frauen – schwarzes Kleid, Perlen, ein leeres, mit Klebeband offen gehaltenes Paar Augen. Faye Milner wirkte auf dem Stuhl nicht so kolossal wie letzte Nacht, als der Sarg mit den Leichen auf den Boden geknallt war. Ich fotografierte den Inhalt ihrer Akte, suchte dann nach den anderen: Demetrius Trite und Joseph Wagner. Und schließlich Shelia Marlene Wade, Billy Wades Mutter, Brendas Schwiegermutter. Sie waren alle da. Brendas Worte fielen mir wieder ein, dass sie einfach nur wissen wollten, was geschehen war. Sie wollten sicher sein, dass Shelia Marlene ihre letzte Ruhe gefunden hatte. Und hier auf dem Foto war sie in finsterer Trauerkleidung. Ich fotografierte ihre Akte, betrachtete die Fotos noch einen Moment länger. Ich weiß nicht, was nach dem Tod mit uns passiert, aber ich weiß, dass irgendetwas aus den Augen verschwindet. Als würde man in einen leeren Vogelkäfig sehen, nachdem der Vogel weggeflogen ist. Es ist nichts mehr da. In Shelia Marlene Wades Augen fehlte alles, was Leben bedeutet.
In der Frühzeit der Fotografie war es nicht ungewöhnlich, dass wohlhabende Familien ihre Lieben nach deren Ableben für diese Art von Porträts in Pose bringen ließen, vor allem Babys und Kinder. Die Fotos hier hatten die gleiche Ausstrahlung. So gruselig das heute auch erscheinen mag, es war eine Art, die Toten zu ehren und in Erinnerung zu behalten, ein Ausdruck von Liebe und Respekt. Ich glaubte nicht, dass Joe Ray oder seine Mutter den Toten diese Art Respekt entgegenbrachten. Was ich letzte Nacht im Verbrennungsofen entdeckt hatte, war Beweis genug dafür.
Was ging in dem Krematorium und in dieser Scheune vor? Ich dachte daran, wie Joe Ray und seine Mutter mitten in der Nacht in die Scheune gefahren waren. War das die Antwort auf die Frage, was sie nachts hier machten? Fotografierten sie ihre Kunden? Und füllten dann die Urnen mit Zement? Im Krematorium waren nur Empfangsbereich und Anlieferungsraum sauber und ordentlich, während alles andere heruntergekommen wirkte. Aber nicht so in der Scheune. Hier nahm sich jemand die Zeit, Sachen wieder aufzuhängen, Reparaturen zu machen, den Inhalt des Aktenschranks alphabetisch zu ordnen. Hatten Joe Ray senior und sein Sohn Probleme gehabt? Rächte sich der Junior an seinem lieben alten Dad für irgendeine Kränkung, für irgendeine erlittene Ungerechtigkeit oder Respektlosigkeit, indem er das Unternehmen zugrunde richtete, es in das verwandelte, was es jetzt war? Rauser würde sagen, dass ich zu viel in die Sache hineindachte. Folge dem Geld. Und das würde mich wohin führen?
Draußen liefen Hühner herum, pickten emsig im Sand. Das Tor zum Hühnerstall stand offen, an der Wand Regale mit Holzkisten voller Stroh, die Schlafquartiere, wie ich vermutete. Ich habe keine Erfahrung mit Hühnern. Bei uns auf der Peachtree Street gibt’s davon nicht so viele. Was mir nur recht ist. Eine der Hennen taxierte mich. Sie war fett und rotbraun. Sie kam direkt auf mich zu, sträubte das Gefieder an ihrem Hals. Ich fand nicht, dass ich diese Ablehnung verdient hatte. Leises Donnergrollen in der Ferne ließ mich aufhorchen. Ich hob den Blick und sah, dass im Westen Wolken aufzogen. Leichter Wind sorgte bereits für kühlere Luft. Nicht unbedingt gut in der Mittagshitze. Wenn eine Kaltfront sich von Norden anschleicht und auf Massen heißer, tropischer Luft trifft, die vom Golf hochdrückt, dann kann das Gewitter schlagartig losbrechen. Georgia im Sommer kann heftig und unberechenbar sein, das hat sich vor allem in den letzten paar Jahren gezeigt. Die Sache mit El Niño zum Beispiel, der anscheinend besonders die Vereinigten Staaten nicht leiden kann. Da ist er weiß Gott nicht der Einzige.
Ich nahm den Schlüssel, den ich in der Scheune gefunden hatte. Er glitt problemlos in das Vorhängeschloss. Der Bügel sprang hoch. Die fette Henne drängte sich gegen meine Knöchel. Ich schob sie sacht mit dem Fuß aus dem Weg, als ich die Tür öffnete. Das gefiel ihr gar nicht. Sie drohte, eine Szene zu machen, fing an, zu gackern und zu flattern. Sie war ein massiger Vogel. Und offenbar ein bisschen irre. Ich ließ sie rein, nur damit sie Ruhe gab, obwohl ich aufgrund meiner mangelnden Erfahrung mit Hühnern kein gutes Gefühl dabei hatte, mit ihr allein in einem Schuppen zu sein, wo Futter gelagert war. Können
Weitere Kostenlose Bücher