Broken (German Edition)
Hühner fliegen? Eine Szene aus einem Hitchcockfilm schoss mir durch den Kopf. Dann sah ich stapelweise Säcke mit Hühnerfutter. Ich war hier im Schlaraffenland von Fette Henne, wie mir klarwurde. In einem Fass voller Futter lag eine leere Kaffeedose. Ich schöpfte eine halbe Dose Körner heraus, öffnete die Tür einen Spalt, sah mich um und warf dann das Futter nach draußen. Fette Henne zwängte sich gackernd an mir vorbei und fing sofort an, die anderen Hühner herumzuschubsen – eine Erpresserin und ein Kontrollfreak. Ich schloss die Schuppentür wieder.
Säcke mit Vogelfutter und Katzenfutter und Hühnerfutter waren auf Paletten gestapelt. Der Boden war mit aschgrauem Staub bedeckt. Ich verschob ein paar Futtersäcke, und siehe da – Dreißig-Kilo-Beutel mit schnell härtendem Fertigzement, zehn Stück, genug, um verdammt viele Urnen zu füllen. Ideal für Heimwerker stand auf der Verpackung. Nur Wasser zufügen. Kein Wort über die Verwendbarkeit als Ersatz für pulverisierte Knochenfragmente.
In dem Futterschuppen lagerte außerdem dicke Plastikplane auf Fünfzehn-Meter-Rollen. Ich überlegte kurz, wofür sie die brauchten.
Mein Handy vibrierte. Neil: Pick-up kommt. Und Miss Hawaiikleid schmeißt uns gleich raus.
Ich sprang aus dem Schuppen, ließ das Vorhängeschloss wieder einschnappen und verschwand hinter der Scheune. Ein paar Regentropfen trafen meinen Arm. Ich konnte hören, wie der Pick-up ums Haus herumkam. Bis zum Wald waren es fünfzig, sechzig Schritte. Ich musste über freies Feld, um dort Deckung zu finden. Aber von da aus könnte ich dann ungesehen um das Grundstück herum zur Hauptstraße gelangen.
Ich bin klein, ich bin schnell. In der Highschool war ich Kurzstreckenläuferin. Im Hundert-Meter-Lauf schaffte ich meistens einen der ersten Plätze. Wenn du einmal gelernt hast, so zu beschleunigen, vergisst du es nie wieder.
Der Weg war ausgetreten. Der Boden war trocken. Das Gras war von Reifen platt gewalzt. Meine Lunge machte mir gerade klar, was sie von Höchstleistungen ohne vorheriges Aufwärmen bei über Dreißigjährigen hielt, als ich mich auf Laub und Kiefernadeln fallen ließ.
Das Nächste, was ich wahrnahm, war der Geruch.
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21
E s nistet sich irgendwo tief in dir ein. Du wirst es nie wieder vergessen. Ermittler wenden verschiedene Methoden an, um den Gestank von verwesendem Fleisch auszuhalten. Das ist eines der Opfer, das die Lebenden erbringen müssen, wenn sie Gerechtigkeit für die Toten wollen. Beim FBI hatte ich mir das stets gesagt, wenn wir an einem besonders grässlichen Tatort eintrafen. Ich persönlich versuche, nicht dagegen anzugehen. Die organischen Realitäten des Todes anzunehmen macht dich zu einem besseren Ermittler. Ich wollte mich niemals von einem Tatort oder Opfer abwenden müssen.
Ich folgte meiner Nase, und nach dreißig Metern in den Wald hinein wäre ich beinahe über etwas gestürzt, das von Laub und Kiefernnadeln umschlossen war. Mit einem Stock harkte ich behutsam frei, was da lag, und blickte plötzlich in die gähnenden Augenhöhlen eines angefressenen Gesichts – die Haut fast vollständig weg, Kieferknochen intakt, ein perfekt geformter Schädel. Die vielen Parasiten und Bakterien und Tiere, die sich von Verwesung ernähren, hatten gute Arbeit geleistet. Einige waren noch drin und emsig bei der Sache.
Ich machte ein Foto und blieb einen Moment stehen. Allmählich begriff ich, dass ich mich an einem Tatort befand. War das hier eine Deponie für nicht eingeäscherte Leichen?
Hohe Kiefern ohne tief hängende Äste erleichterten es mir, mich durch den Wald zu bewegen. Ich begann, alle Bodenwellen und Buckel im Kiefernnadelbett genauer zu untersuchen. Ich fand einen Arm, eine Hand, Knochen eines Beins. Ich sah Spuren, Abdrücke auf dem Boden. Kleine Reifen, wie von einer Schubkarre. Ich folgte ihnen und hörte das wütende Surren von Fliegen, bevor ich auf ein Massengrab stieß, das die Jahreszeiten noch nicht mit einer Decke aus Laub und Kiefernnadeln hatten zudecken können. Der Geruch war hier stärker, wie nach Papierbrei und verwesendem Tier und überreifem Obst. Er hing in der schwülen, mückenverseuchten Luft. Körperteile, aufgetürmt und von Fliegen wimmelnd, zu Aberhunderten. Menschliche Überreste waren wahllos, achtlos verstreut – Körper ohne Augen, Köpfe ohne Körper, Arme und Beine. Als ich ein Bein sah, an dem vom Knie aufwärts lange Hautstreifen fehlten, war ich mir zum ersten Mal sicher, was es
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