Brombeersommer: Roman (German Edition)
vielleicht eines Tages vor der Tür.«
Als der Zug aus dem Bahnhof stampfte und der Dampf der Lok sich im Grau des Himmels verlor, brach das Elend über Edith herein. Alles stand ihr wieder vor Augen. Die Todesangst, als das Donnergrollen der Front näher kam. Wie ein Gewitter war es gewesen, das Tag und Nacht andauerte. Was man alles für Gerüchte hörte! Das Grauen lief der Roten Armee voraus. Flüchtlingstrecks von den östlichen und südöstlichen Grenzen zogen durchs Land und verbreiteten Panik, aber die Mutter wollte den Vater nicht allein lassen. Und der, dammlig wie er war, ließ sichtatsächlich zum Volkssturm einziehen, um die »Festung Ostpreußen« bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen.
»Sie werden mich erschießen, sobald sie mich auf der Straße sehen. Man kann sich der Einberufung nicht entziehen!«, sagte er.
Ihre Flucht. Die beiden Mädchen hatten einen Handwagen mit dem Nötigsten oder was sie dafür hielten gepackt. Es blieb keine Stunde Zeit zum Nachdenken. Sie hatten die Mutter zwingen müssen, all ihre warmen Sachen übereinander anzuziehen, es war ja Januar, tiefster Winter. Doch Meta Abelkis stand in der Haustür und wollte keinen Schritt machen. »Und wenn er nun heimkommt und vor verschlossenen Türen steht«, sagte sie. »Ich kann doch nicht einfach abschließen und gehen.«
Edith und Marianne zogen sie gewaltsam fort. »Wir schließen nicht ab, wir lassen das Haus offen für Papa. Wir lehnen das Küchenfenster nur an. Justus muss ja auch rein und raus kommen, ich habe ihm noch eine Makrele hingestellt«, sagte Edith verzweifelt. »Makrele hat er doch so gern.« Edith weinte, die Feuchtigkeit brannte auf der Haut, so kalt war es.
Sie mussten los, um bei Tageslicht möglichst weit zu kommen. Es waren immer nur ein paar Kilometer, die man zu Fuß vorankam bei diesem Schnee. Auf dem Handwagen ein Schmalztopf, Eingemachtes aus dem Garten, Kartoffeln und Speck und das vielteilige Silberbesteck. Das konnte man gegen Essen eintauschen unterwegs, so hofften sie. Die Fotoalben, die Ausweispapiere, die Sparbücher, die Lebensmittelkarten, die Noten der Toccata in d-Mollund der Mondscheinsonate, der Walzer und Mazurken von Chopin. Marianne hatte ihre und die Lieblingsbücher ihres Vaters auf den Wagen geladen, den Band über die Kunst in Flandern, den er so oft hervorholte, und den über die »Melancolia« von Dürer. Teller, Tassen. Alles, was man aus Gläsern trank, konnte man auch aus Tassen trinken, Suppenteller waren praktischer als flache Teller, nur die also. Eine Milchkanne. Kerzen, Streichhölzer, etwas Anmachholz. Darüber hatten sie an Wäsche, Kleidern, Wollsachen, Decken und Bettwaren gepackt, was noch drauf ging. Marianne rannte noch einmal zurück und holte Muttchens Schmuckkästchen und den Seidenschal, den Papa ihr einmal geschenkt hatte. Was noch, was noch? Ein Stück Seife.
Die ganze Flucht über war es ihnen gelungen zusammenzubleiben. Und jetzt waren sie getrennt. Es war unerträglich, dass sie sie alleine ließen, Mutti und Marianne, dass sie wegfuhren ohne Edith.
Edith schloss die Tür zur Mansarde auf. Der Kohleofen war ausgegangen, die Kohlenschütte leer. Sie wartete nicht auf Karl, sondern ging selbst in den Keller. Es war noch nicht warm genug draußen, um ohne Heizung auszukommen. Edith schleppte die Kohle und eine Tasche Briketts die vier Treppen hoch, heizte ein. Setzte mit dem Tauchsieder etwas Wasser auf, um Tee zu machen. Wickelte sich in die Strickjacke, die ihre Mutter für sie gestrickt hatte.
Karl und sie hatten jetzt eine Wohnung. Aber nicht mal ein Klavier hatte in der Mansarde Platz. Und was nun? Als es sicher war, dass sie die Mansarde bekommen würden,hatte Karl sie nach einer schönen, zärtlichen Nacht, wie sie sie lange nicht mehr gehabt hatten, gefragt, ob sie sich ein Kind wünsche. Nein, sie wünschte sich kein Kind. Sie konnte sich nicht vorstellen, dauernd ein Kind im Kinderwagen herumzuschieben. Und Karl mit seinem Sichbescheiden, wollte er denn überhaupt für ein Kind sorgen?
»Du musst es wissen«, hatte er gesagt. »Vielleicht suchst du dir auch eine Arbeit, wenn du noch kein Kind willst.« Er schien enttäuscht. Aber drängen wollte er sie nicht.
Es schien ihm besser zu gehen, er war fröhlicher, unbeschwerter jetzt, fand sie. Nachts hatte er aber immer noch Schweißausbrüche, wälzte sich im Traum. Morgens nahm er dann wie gerädert eine Kopfwehtablette, sagte, es sei nichts, küsste sie und ging zur Arbeit.
Sie
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