Brombeersommer: Roman (German Edition)
gewesen.
»Kommst du essen?«, rief Edith. »Alles wird kalt!«
Karl nahm die dicht beschriebenen Seiten mit zum Tisch.
»Und?«, fragte Edith, »was steht in dem Brief?«
»Martin lebt jetzt in München. Er ist verheiratet und hat schon zwei Kinder, stell dir vor. Er besucht eine Cousine in der Nähe und fragt, ob wir uns sehen wollen. Er wusste noch, dass ich hier aufgewachsen bin. Martin wird dir gefallen. Er will im August kommen, in drei Wochen.«
»Manche Leute sind im August in den Ferien. Aber wir sind ja da«, sagte Edith.
Karl schwieg. Dann sagte er nur: »Wir haben zu viel Arbeit im Atelier, ich kann nicht weg.«
»Wenn du angestellt wärst, könntest du weg. Dann hättest du nämlich das Recht auf ein paar Tage Urlaub im Jahr.«
»Ich will aber nicht angestellt sein. Ich will meine Freiheit behalten.«
»Was für eine Freiheit?«, versetzte Edith.
»Ich will nicht streiten«, sagte Karl und faltete den Brief zusammen.
Der August 1951 war warm und trocken. Theo und Viola waren für ein paar Tage an den Bodensee gefahren. Sie schrieben eine Postkarte. »Es ist fast, als wäre man am Meer, wunderschön! Das nächste Mal müssen wir zusammen hierher fahren.«
Edith platzierte die Postkarte mit der glitzernden Seefläche und dem Ausflugsdampfer auf dem Nachttischchen. Sah durch das geöffnete Mansardenfenster auf ein unverstelltes Quadrat heiteren blauen Sommerhimmels. Schwalben schossen auf und nieder.
Sie nahm Einkaufsnetz und Milchkanne und ging hinunter zum Milchmann. Eier kaufte sie auch, der Besuch sollte einen Apfelkuchen bekommen. Die Äpfel waren jetzt frisch, und sie machte ihn, wie ihre Mutter ihn immer gemacht hatte, mit Mürbeteig.
Karl holte den Freund vom Bahnhof ab. Edith deckte den Tisch. Karl trank gern Tee. Kaffee war nicht gut für seine Nieren, er hatte immer wieder damit zu schaffen. Somachte sie beides, Tee und Kaffee. Zu Apfelkuchen mit Sahne gehörte einfach Kaffee.
Als es klingelte, ging sie ins Treppenhaus hinaus. Es dauerte immer lange, bis man von unten heraufgestiegen war. Sie hörte Karl lachen, weich. Die Stimme des Freundes war tiefer, eine richtige Bassstimme, die leicht vibrierte wie die Saiten eines Kontrabasses. Jetzt waren sie auf dem Absatz zum dritten Stock.
»Noch einen Stock, dann haben wir es«, hörte sie Karl sagen. Sein blondes Haar neben dem dunklen des Freundes. Das dunkle Haar passt zu seiner tiefen Stimme, dachte Edith und stellte sich zur Begrüßung auf die oberste Treppenstufe. Sie hatte ja noch die Schürze um, wie dumm! Aber nun war es zu spät. Sie fuhr sich durch die Haare, lächelte.
Martin Imrod gab ihr die Hand, und Edith freute sich über den Besuch. Karls Freund wirkte offen und sympathisch, sie würden schon was zu reden haben. Er war wohl in etwa gleich alt wie Karl, vielleicht zwei, drei Jahre älter, ein eher südlicher Typ.
»Ihr Apfelkuchen ist unglaublich, Edith«, sagte Martin. »Davon muss ich noch ein Stück haben.«
»Es muss nichts übrig bleiben«, lachte Edith. »Essen Sie nur. Heute Abend gibt es aber auch noch was.«
»Wollt ihr euch nicht duzen?«, schlug Karl vor.
»Mit Vergnügen«, sagte Martin, »wenn es deiner Frau recht ist.«
»Natürlich«, antwortete Edith verlegen und stand schnell auf, weil sie spürte, dass sie errötete. »Ich hole noch etwas Zucker …«
Martin Imrod hatte nach dem Krieg begonnen, Literaturwissenschaft in München zu studieren. »Nicht nur die alten Klassiker«, meinte er, »die kenne ich ja. Aber es gibt eine neue Literatur in Deutschland, die geprägt ist von den Erfahrungen des Krieges. Habt ihr von der Gruppe 47 gehört? Da sind spannende neue Stimmen dabei. Hans Werner Richter zum Beispiel, Alfred Andersch, Karl Krolow. Heinrich Böll. Oder Wolfdietrich Schnurre. Sie treffen sich, lesen sich gegenseitig ihre Texte vor und diskutieren darüber.«
Edith stützte die roten Wangen in die Hände, die Ellbogen auf dem Tisch wie ein Schulmädchen, und hörte andächtig zu.
»Der Gruppe geht es um die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft, um einen Neuanfang der Politik und der Sprache. Die Sprache, eine literarische Sprache, muss neu erfunden werden, nachdem die Nazis sie unbrauchbar gemacht haben mit ihren Lügen, ihrer Propaganda, ihrer Ideologie.«
Karl nickte. Wie gut Martin das sagte. Deshalb waren sie ja immer stiller geworden, alle beide. Weil alles nur noch Lüge war. Und die Wahrheit durfte man nicht sagen, wenn man nicht erschossen werden wollte. Es hatte
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