Brombeersommer: Roman (German Edition)
auf die Schulter. »Hallo, Jan, kennst du mich noch? Ich bin Karl. Karl, dein Kamerad und Zimmergenosse aus Neuhausen.«
Etwas wie eine Erinnerung glomm in Jans Augen auf. Karl stand unschlüssig vor ihm, zog dann einen Stuhl näher heran und setzte sich. Die beiden Männer schauten kurz herüber und gleichgültig wieder weg. Karl spürte, dass es ihn fror. »Eigentlich sollten wir bei dem Wetter im Park spazieren gehen«, sagte er zu Jan, »es ist ein wunderbarer Tag heute. Hast du Lust? Soll ich die Schwester fragen?«
Es schien Jan anzustrengen, aber er brachte ein vages Nicken zustande. Wenn ich ihn nur in Bewegung bringe, dachte Karl, dann wird alles einfacher. »Wo hast du deinen Mantel? Warte, ich sage der Schwester Bescheid. Ich bin gleich wieder da …« Er verließ das Zimmer und atmetetief durch. Jan war nicht verrückt. Und doch war Karl einen Moment lang danach, einfach fortzulaufen.
»Doch, ja«, sagte Jan, als sie auf einer Bank im Klinikgarten saßen, »manchmal besucht sie mich.«
»Und, möchtest du mit Annegret zusammenbleiben?«
Jan hob die Achseln.
»Kannst du dich noch an Edith erinnern? Wir haben uns damals in Neuhausen kennengelernt. Edith ist aus dem Osten geflohen. Wir haben nach dem Krieg geheiratet. Es ist nicht gut gegangen zwischen uns. Sie hat mich verlassen, schon vor einer Weile.«
Sie schwiegen. Wie der Flieder duftet, dachte Karl und erinnerte sich daran, wie er damals in Neuhausen zu Jans Erstaunen einen Strauß Wiesenblumen in ihre Stube gestellt hatte.
»Wie lange wirst du in der Klinik bleiben?«
Wieder hob Jan nur ungewiss die Schultern.
»Hast du denn das Gefühl, dass sie dir helfen können?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Jan.
»Ich war nicht in Sibirien«, sagte Karl. »Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie es da ist.« Er wartete nicht auf eine Antwort. »Aber der Krieg geht mir nach. Ich habe oft Albträume, die Erschießungen, weißt du. Auch Frauen, Kinder. Das waren doch keine Soldaten. Das waren Leute aus den Dörfern. Manchmal waren sie Partisanen.«
Jan nickte.
»In den ersten Jahren dachte ich, diese Bilder bringen mich um den Verstand.«
Sie schwiegen wieder.
»Es klingt komisch«, sagte Karl irgendwann, eigentlichsprach er zu sich selbst, »aber manchmal sehne ich mich trotzdem nach Russland. Nach der großen Weite. Als ob das dort mein Zuhause wäre. Das gewaltige silberne Band des Dnjepr. So einen Strom habe ich noch nie gesehen.« Er sah in den Himmel hinauf. »Die Birken sind meine Lieblingsbäume geblieben. Die weißen, zarten Stämme. Das lichte Geäst, das Flirren der Blätter.«
Karl versank in Gedanken. Es störte ihn nicht mehr, dass Jan nicht antwortete. Er begriff, dass Jan in seinen Erinnerungen lebte wie er, Karl, in seinen. Nur dass er selbst zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin- und herwechseln konnte, während Jan gefangen war in einer Vergangenheit, die nicht verging.
Da saßen sie und schwiegen.
»Jan«, sagte Karl, »sei nicht böse, ich werde bald aufbrechen. Ich will heute noch nach Hause zurück.« Er legte dem Freund den Arm auf die Schulter, so wie er es früher immer getan hatte. Ein Lächeln glitt über Jans Gesicht.
»Ich bin froh, dass ich dich wiedergefunden habe«, sagte Karl, als sie vor der Tür zum Krankenzimmer standen. »Wenn du hier wieder draußen bist, kommst du mich besuchen, ja?« Und als der andere nicht antwortete, fügte er hinzu: »Ich weiß auch nicht, wie man leben kann. Aber irgendwie geht es dann doch.«
Da lächelten sie beide.
Der Zug war fast leer, Karl hatte ein ganzes Sechserabteil für sich. Zuerst hatte er noch überlegt, ob er ein Hotel nehmen und doch eine Nacht länger bleiben sollte, aber es zog ihn nach Hause, und er verwarf den Gedanken wieder.Er sah aus dem Fenster und hörte dem monotonen Rattern des Zuges zu. Das Geräusch hatte etwas Einlullendes, und Karl merkte, wie müde er war. In den Falten der bräunlichen Vorhänge, die seitlich am Fensterrahmen festgemacht waren und offensichtlich selten zugezogen wurden, hatte sich kalter Zigarren- und Zigarettenrauch angesammelt. Die Falten waren scharfkantig wie bei einer Ziehharmonika. Als Karl sie auseinanderzog, sah man, wo die Sonne die Farbe ausgebleicht hatte.
Auf der Hinfahrt hatte Karl mehrmals Inges Bild hervorgeholt und sich vorzustellen versucht, wie sie jetzt wohl aussah. Er hatte sie sofort auf dem Bahnsteig erkannt, als der Zug auf dem Gleis einfuhr. Sie trug einen leichten Übergangsmantel
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