Brook, Meljean - Die Eiserne See
Wachsamkeit nachließ und sich eine Geldbörse oder ein Koffer ergattern ließ. Imbissverkäufer schoben ihre quietschenden Karren und brüllten ihre Preise und Angebote.
Yasmeen steckte sich einen Zigarillo an, um den allgegenwärtigen Gestank nach Fisch und Öl zu bekämpfen, und wartete darauf, dass Barker von der Vesuvius herübergerudert kam. Sein Beiboot durchschnitt den gelben Schaum, der auf dem Wasser trieb und an den Pfählen klebte.
Ekelhaft, aber immerhin hielt der Schaum die Megalodone fern. In vielen Häfen der Nordsee durfte man nicht riskieren, in ein solch kleines Boot zu steigen – kaum mehr als eine Maulvoll für die Riesenhaie.
Sein schwarzes Haar unter eine Wollmütze gestopft, machte Barker das Beiboot fest und sprang auf den Kai, kam mit einem breiten Grinsen auf sie zu. »Käpt’n Korsar! Genau die Frau, auf die ich gehofft hatte! Sie schulden mir einen Drink.«
Gut möglich. Yasmeen schloss so viele Wetten mit ihm ab; die konnte sie sich gar nicht alle merken. »Warum?«
»Sie haben gesagt, falls ich je einen Finger verliere, werde ich flennen wie ein kleines Kind. Hab ich aber nicht. Ich hab geflennt wie ein Mann .«
Yasmeen runzelte die Stirn und sah auf seine Hände. Er zog entgegenkommenderweise seinen linken Handschuh aus und enthüllte einen schimmernden, mechanischen kleinen Finger. Die braune Haut um die Prothese herum war gerötet. Noch immer am Heilen.
Sie sah ihm wieder in die Augen. »Wie?«
»Sklavenhändler, vor zwei Tagen. Ich hab mir eine Kugel eingefangen.« Er lächelte flüchtig. »Buchstäblich.«
»Und die Sklavenhändler?«
»Tot.«
Natürlich, was sonst! Anderenfalls hätte Mad Machen keinen Hafen angesteuert. Sondern sie weiter gejagt.
Yasmeen begutachtete die Prothese.
Von ihrer ansatzlos in sein Fleisch übergehenden Form her war sie absolut nicht von einem echten Finger zu unterscheiden, die Gelenke waren glatt und funktionierten, wie Barker mit einem Wackeln der Finger vorführte, perfekt. Eine unglaubliche Arbeit.
»Die Schmiedin Ihres Schiffes versteht ihr Werk.« Sie verstand es so sehr, dass Yasmeen sie von der Vesuvius fortgelockt hätte – nur war das dumme Mädchen bei Mad Machen schwach geworden.
»Sie ist brillant«, sagte Barker. Er zog den Handschuh wieder an und warf einen Blick zur Lady Corsair hinauf. »Ihre Leute sind alle noch oben. Ist das nur eine Zwischenlandung?«
»Ja.« Und selbst wenn nicht, hätte sie das Luftschiff nicht unbemannt gelassen, solange die Skizze an Bord war. »Ich bin nur kurz hier, um mich mit jemandem zu unterhalten. Morgen fahren wir weiter.«
»Mit jemandem unterhalten?« Barker kannte sie lange genug, um zu wissen, was das hieß. »Möchten Sie, dass ich mitkomme?«
Sie brauchte seinen Beistand nicht, aber sie hatte auch nichts gegen seine Gesellschaft. »Wenn Sie möchten.«
»Aber ja. Ich besorge uns eine Droschke. Wohin?«
Er zog die Augenbrauen hoch, als sie ihm ihr Ziel sagte, doch er behielt seine Meinung für sich, bis sie in die kleine Dampfkutsche eingestiegen waren.
Er musste seine Stimme über den Lärm der Maschine heben. »Warum Kessler?«
»Er hat geplaudert, als er besser den Mund gehalten hätte.«
»Ist jemand dabei gestorben?«
»Miracle Mattson. Ihm hatte Kessler es gesagt.«
Barkers Stirnrunzeln besagte, dass er denselben Gedanken hatte wie zuvor Yasmeen: Männer wie Kessler und Mattson machten normalerweise keine Geschäfte miteinander. Zwar wurde jede Menge Kunst in die Neue Welt geschmuggelt, aber damit hatte Mattson eigentlich nichts zu schaffen. Wenn Kessler Waffen gebraucht hätte, ja. Aber keine Skizze.
Auf der Brücke über der ersten Gracht ging es langsamer voran; sie wimmelte von Arbeitern aus dem dritten Ring, die in den Hafen strömten. Am anderen Ende standen drei Damen, die lange, schmale Spitzenkrägen um die Hälse trugen und Kleider aus besticktem Leinen über Korsetts und Reifröcken. Sie schienen mit dem Überqueren der Brücke warten zu wollen, bis sie frei von Pöbel war. Yasmeen beobachtete die Frauen amüsiert. Fünf Jahre zuvor hatten die Bewohner des zweiten Rings Brücken eigens zu ihrer alleinigen Benutzung errichten lassen. Diese Exklusivität hatte nicht einmal die erste Woche überstanden.
Als die Brücke außer Sicht war, hatten die Damen sie noch immer nicht überquert. Yasmeen sah wieder nach vorn. Kesslers Haus lag gleich hinter der nächsten Ecke.
»Möchten Sie, dass ich mit reinkomme?«, fragte Barker.
»Warten Sie einfach nur in der
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