Brook, Meljean - Die Eiserne See
aus einem der Sehschlitze, löste das Kopftuch. Yasmeen kauerte neben Archimedes; beide bewegten sich nicht, sondern warteten sprungbereit ab, in welche Richtung das Pferd jetzt wollte.
Doch stattdessen kam die Maschine zum Stillstand. An ihrem Bauch öffnete sich eine Klappe. Mit gezogenen Waffen warteten sie.
Ein junger Mann purzelte heraus und landete unter dem mechanischen Untier auf den Knien, die Hände ausgebreitet, als würde er zeigen wollen, dass er unbewaffnet war. Er ließ den Kopf hängen und war anscheinend nahe daran zu weinen – und seine Lippen bewegten sich. Über dem Grollen der Maschine war in der Sprache der Horde eine Entschuldigung zu hören: »Ich wusste nicht, dass Sie es sind, gan tsetseg , sondern ich dachte, einer der Seelenlosen wäre gekommen. Verzeihen Sie mir, Herrin!«
Gan tsetseg . Stahlblume – als eine solche hatte Yasmeen auch sich selbst und Nasrin bezeichnet.
Yasmeen stand steif da, die Pistole noch immer auf ihn angelegt. Archimedes schob seine Waffe in das Holster.
»Er sagt, dass es ihm leidtut, Stahlblume«, erklärte er ihr auf Französisch. »Er hat uns für Zombies gehalten.«
Yasmeen blinzelte. »Ich habe kaum ein Wort verstanden. Er hat einen starken Akzent.« Sie senkte ihre Waffe und wechselte ins Mongolische. »Steh jetzt auf!«
Ihr Akzent war stark und erinnerte mehr an Temür als an die Hordenrebellen, mit denen Archimedes zu tun gehabt hatte, aber der junge Mann gehorchte sofort. Er war vielleicht achtzehn oder zwanzig, hatte ein rundes Gesicht und feuchte braune Augen und trug eine lange Steppjacke, die in der Mitte geschlitzt war und von einer Schärpe zusammengehalten wurde. Stiefel aus Leder und Pelz schützten seine Füße.
Yasmeen steckte ihre Waffe weg. »Wie viele seid ihr in der Festung?«
»Nur ich und niemand.«
»Und wo ist niemand?«
Es war ein Name, begriff Archimedes. Nergüi.
»In unserem Raum. Sie schläft vom Opium.«
»Sie?«
»Meine Großmutter.«
Yasmeen nickte. »Und du bist?«
»Terbish.« Jemand anders.
Sie lächelte flüchtig. »Da hatte deine Familie aber manchmal schon ihre Probleme, dich zu rufen, hm?«
Sein Mund blieb zwar ernst, aber Terbish bekam Lachfalten an den Augen. Tränen und Angst verschwanden aus seinem Gesicht. »Ja.«
Sie wies auf das Pferd, das leise hinter ihm grollte. »Hast du das gebaut?«
»Ja.«
»Es ist unglaublich. Lässt du uns mal einen Blick hineinwerfen?«
Er machte große Augen und trat zurück, breitete die Arme aus. »Bitte, Herrin!«
Terbish und Nergüi hatten einen der Räume bei der Gießerei belegt. Damit sich die Wärme nicht verflüchtigte, hatten sie die Fensteröffnungen mit dicken Brettern von den Tischen verschlossen und vor die Durchgänge schwere Wolldecken gehängt. Dicht bei einem Herd aus Stein und Stahl, der einen effizienten Ofen abgab, befanden sich zwei palettenähnliche Lagerstätten. Auf einer schnarchte eine grauhaarige Frau leise vor sich hin.
Terbish bückte sich, um sie zu wecken. »Es wird ein paar Minuten dauern, bis sie aufsteht. Bitte setzen Sie sich!«
Yasmeen warf einen Blick auf die gewebten Matten neben den Lagerstätten und ließ sich im Schneidersitz nieder. Archimedes ging in die Hocke, und sie musste schmunzeln. Er würde sich vorläufig nicht entspannt niederlassen. Sie konnte sich so schnell bewegen, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte.
Die Alte regte sich. Sie machte keinen berauschten Eindruck, sondern trank wahrscheinlich vor dem Schlafengehen eine Medizin. Ihre steifen Bewegungen deuteten auf Arthritis hin. Als sie Yasmeens Ohren sah, riss sie die Augen auf und erstarrte. Für einen kurzen Moment zeigte sich Furcht, dann war sie auf den Beinen und scheuchte Terbish los, etwas zu essen aus ihrer Vorratskammer zu holen. Sie schürte das Feuer und schenkte aus einem Sack aus Pferdeleder, der danebenhing, vergorene Milch ein. Yasmeen nahm die kleine Schale entgegen. Nach dem Schnee draußen war das eingedickte Getränk angenehm warm. Es schmeckte leicht süß, außerdem scharf. Sie gab die Schale an Archimedes weiter.
»Ich habe keine Pferde gehört«, sagte sie. Von dem schrecklichen mechanischen Pferd einmal abgesehen. »Haltet ihr sie hier?«
»Drüben im Tal.« Nergüi ließ sich auf ihrer Matte nieder, ebenfalls im Schneidersitz. »Wir kehren jede Woche zum Vorposten zurück, um unsere Vorräte aufzufüllen.«
»Ihr lebt dort nicht?«
»Doch. Aber was gibt es dort im Winter schon zu tun? Es wächst nichts; alle sitzen nur
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