Brooklyn
gefragt hat, und da gibt’s eine Krise, weilsämtliche LKW-Fahrer morgen ihren Lohn bekommen müssen und auch alle Männer, die in der Mühle arbeiten, und ein Mädchen ist in Urlaub, und Alice Roche ist krank, und sie wussten nicht mehr ein noch aus, bis du jemand eingefallen bist. Und sie möchten, dass du morgen früh um halb zehn da bist, und ich hab gesagt, du würdest kommen. Es war besser, ja als nein zu sagen.«
»Woher wussten sie, dass ich hier bin?«
»Die ganze Stadt weiß doch, dass du hier bist. Dann steht dein Frühstück also morgen um halb neun auf dem Tisch, und sieh du zu, dass du vernünftige Sachen anziehst. Nichts zu Amerikanisches.«
Ihre Mutter trug eine zufriedene Miene zur Schau, und Eilis sah es mit Erleichterung. In den letzten Tagen hatte sie sich mehr und mehr vor dem Schweigen zwischen ihnen gefürchtet und sich darüber geärgert, wie wenig ihre Mutter sich für ihre Zeit in Amerika interessierte. Jetzt saßen sie in der Küche und sprachen über Nancy und George und die Hochzeit und vereinbarten, am folgenden Dienstag nach Dublin zu fahren, um sich für den Anlass neu einzukleiden. Sie erörterten, was sie Nancy als Hochzeitsgeschenk kaufen sollten.
Als Eilis nach oben ging, war ihr zum erstenmal wohler dabei, wieder zu Haus zu sein, und sie merkte, dass sie sich auf den Tag in der Lohnbuchhaltung und dann auf das Wochenende fast freute. Doch während sie sich auszog, bemerkte sie einen Brief auf dem Bett und sah sofort, da sein Name und seine Adresse auf dem Umschlag standen, dass er von Tony kam. Ihre Mutter hatte ihn offenbar dort hingelegt und beschlossen, kein Wort darüber fallenzulassen. Sie öffnete ihn mit einem fast bangen Gefühl und fragte sich einen Moment lang, ob irgend etwas mit ihm passiert sei, um dann erleichtert aufzuatmen, als sie die ersten Sätze las, in denen er ihr seine Liebe erklärte und betonte, wie sehr sie ihm fehle.
Während sie den Brief las, wünschte sie sich, sie könnte ihn mitnach unten nehmen und ihn ihrer Mutter vorlesen. Der Ton war steif, förmlich, altmodisch; der Brief stammte eindeutig von jemandem, der nicht gewohnt war, Briefe zu schreiben. Dennoch schaffte es Tony, darin etwas von sich hineinzulegen, seine Herzlichkeit, seine Güte und seine Begeisterungsfähigkeit. Und es war auch stets noch etwas anderes in ihm zu spüren, dachte sie, etwas, was auch in seinem Brief deutlich wurde. Es war die Angst, dass sie, wenn er auch nur einen Augenblick wegschaute, vielleicht verschwinden würde. Diesen Nachmittag, während sie die See und das warme Wetter und die Gesellschaft von Nancy und George und sogar, gegen Ende, die von Jim genossen hatte, war sie von Tony weit, weit entfernt gewesen und hatte sich in der Ungezwungenheit der plötzlich entstandenen Vertrautheit gesonnt.
Jetzt wünschte sie, sie hätte ihn nicht geheiratet, nicht weil sie ihn nicht geliebt oder nicht vorgehabt hätte, zu ihm zurückzukehren, sondern weil ihrer Mutter und ihren Freunden nichts davon zu erzählen jeden einzelnen Tag, den sie in Amerika verbracht hatte, zu einer Art Tagtraum machte, zu etwas, was sie mit der Zeit, die sie zu Haus verbrachte, nicht in Einklang bringen konnte. Es verschaffte ihr das seltsame Gefühl, zwei verschiedene Personen zu sein – die eine, die sich in Brooklyn durch zwei kalte Winter und viele schwere Tage gekämpft und sich dort verliebt hatte, und die andere, die ihrer Mutter Tochter war, die Eilis, die jedermann kannte oder zu kennen meinte.
Sie wünschte, sie könnte jetzt nach unten gehen und ihrer Mutter erzählen, was sie getan hatte, aber sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Es wäre einfacher zu behaupten, dass sie wegen ihrer Arbeit nach Brooklyn zurückmusste, und dann, wenn sie wieder dort wäre, zu schreiben, dass sie sich mit einem Mann traf, den sie liebte und mit dem sie sich zu verloben und den sie schließlich zu heiraten hoffte. Sie würde nur noch ein paar Wochen zu Hause sein. Als sie im Bett lag, überlegte sie sich, dass es am klügsten sein würde, das Beste daraus zu machen und währenddieses bloßen Zwischenspiels keine großen Entscheidungen zu treffen. Es war unwahrscheinlich, dass sich je wieder eine solche Gelegenheit ergeben würde, so wie jetzt daheim zu sein. Am nächsten Morgen wollte sie früh aufstehen und Tony schreiben und den Brief auf dem Weg zur Arbeit einwerfen.
Am nächsten Morgen fiel es ihr schwer, sich nicht wie Rose’ Geist zu fühlen, als ihre Mutter ihr auf die gleiche
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