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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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damit«, sagte Father Flood. »Auf diese Weise wird der Feiertag länger.«

    Als sie sich daranmachten, die Dessertteller abzuräumen, war die Luft im Saal rauchgeschwängert. Männer saßen in Gruppen beisammen und unterhielten sich angeregt, während ein, zwei andere hinter ihnen standen; andere gingen von Gruppe zu Gruppe, manche von ihnen mit Whiskeyflaschen in braunen Papiertüten, die sie herumreichten. Als die Küche fertig geputzt war und die Mülleimer gefüllt worden waren, schlug Father Flood vor, sie sollten in den Saal gehen und den Männern bei einem Glas Gesellschaft leisten. Inzwischen hatten sich einige Besucher, darunter auch ein paar Frauen, eingefunden, und als Eilis sich mit einem Glas Sherry in der Hand setzte, fand sie, sie könnten genausogut in einem Gemeindesaal irgendwo in Irland sein, am Abend eines Konzerts oder einer Hochzeit, wenn die jungen Leute alle irgendwo anders tanzten oder am Tresen standen.
    Nach einer Weile bemerkte Eilis, dass zwei Männer Fiddles und ein anderer ein kleines Akkordeon hervorgeholt hatten; sie hatten eine Ecke für sich gefunden und spielten jetzt, während andere um sie herumstanden und zuhörten. Father Flood ging mit einem Notizheft durch den Saal, schrieb sich Namen und Adressen auf und nickte, wenn alte Männer etwas zu ihm sagten. Nach einer Weile klatschte er in die Hände und bat um Ruhe, aber es vergingen noch ein paar Minuten, ehe sich die allgemeine Aufmerksamkeit ihm zuwandte.
    »Ich unterbreche ungern«, sagte er, »aber wir möchten einem netten Mädchen aus Enniscorthy und zwei netten Frauen aus Arklow für ihr hartes Tagewerk danken.«
    Es ertönte Beifall.
    »Und um ihnen zu danken, haben wir einen großartigen Sänger hier im Saal, und wir freuen uns ganz besonders, ihn dieses Jahr wiederzusehen.«
    Er zeigte auf den Mann, den Eilis für ihren Vater gehalten hatte. Er saß in einiger Entfernung von Eilis und Father Flood, aber als sein Name gerufen wurde, stand er auf und kam ruhig auf sie zu. Er stellte sich mit dem Rücken an die Wand, so dass alle ihn sehen konnten.
    »Der Mann da«, flüsterte Miss Murphy Eilis zu, »hat Langspielplatten gemacht.«
    Eilis schaute auf und sah, dass der Mann ihr ein Zeichen gab. Er wollte offenbar, dass sie sich neben ihn stellte. Einen Augenblick lang dachte sie, er wollte vielleicht, dass sie sang, also schüttelte sie den Kopf, aber er winkte sie weiterhin zu sich, und die Leute begannen, sich umzudrehen und sie anzusehen; sie merkte, dass sie keine andere Wahl hatte, als aufzustehen und zu ihm zu gehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was er von ihr wollte. Als sie näher kam, sah sie, wie schlecht seine Zähne waren.
    Ohne sie zu begrüßen oder sonst auf ihre Ankunft zu reagieren, schloss er die Augen, streckte die Hand nach der ihren aus und umfasste sie. Die Haut seiner Handfläche war weich. Er hielt ihre Hand fest umklammert und schwenkte sie leicht hin und her, während er zu singen begann. Seine Stimme war laut und kräftig und nasal; sein Irisch, dachte Eilis, musste Connemara-Irisch sein, denn sie erinnerte sich an eine Lehrerin im Mercy Convent, die aus Galway gewesen war und den gleichen Akzent gehabt hatte. Er sprach jedes einzelne Wort sorgfältig und langsam aus, während die Melodie immer wilder und unbändiger wurde. Aber erst als der Refrain kam, verstand sie seine Worte – Má bhíonn tú liom, a stóirin mo chroí –, und er warf ihr einen stolzen, fast besitzergreifenden Blick zu, als er diese Zeilen sang. Alle im Saal lauschten ihm stumm. Das Lied hatte fünf oder sechs Strophen; er sang den Text mit einer reinen, bezaubernden Unschuld, so dass er bisweilen, wenn er die Augen schloss und sich mit dem ganzen langen Körper gegen die Wand lehnte, überhaupt nicht mehr wie ein alter Mann aussah; die Kraft seiner Stimme und die Selbstsicherheit seines Vortrags hatten die Oberhand gewonnen. Und jedesmal, wenn der Refrain kam, sah er sie an und verlangsamte das Tempo, so dass die Melodie lieblicher klang; dann senkte er den Kopf und erweckte noch mehr den Eindruck, dass er das Lied nicht lediglich auswendig gelernt hatte, sondern dass er es ernst meinte. Eilis wusste, wie leid es diesem Mann und wie leid es ihr selbst tun würde, wenn das Lied zu Ende, der Refrain zum letztenmal erklungen war und der Sänger sich vor der Menge verbeugen und zu seinem Stuhl zurückkehren und einem anderen Sänger Platz machen musste, während Eilis ebenfalls zurückging und sich wieder

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