Brother Sister - Hoert uns einfach zu
. Sie gaben ihr Hoffnung. Wenn ich bloß ansatzweise andeutete, wie unser Dad wirklich war, rastete sie aus und schrie mich an: »Halt die Klappe! Halt die Klappe!« Sie wollte es einfach nicht hören.
Als ich ihr also die Geschichte erzählte, wie Mom unseren Dad überfahren wollte, hab ich deswegen lieber nichts davon gesagt, dass er sie, nachdem sie sich beruhigt hatte, ins Schlafzimmer verfrachtet und da eingesperrt hat, ungefähr eineinhalb Tage lang. Auch noch, als sie sich bereits beruhigt hatte. Sie bat und bettelte und schwor hoch und runter, dass sie sich unter Kontrolle hätte, aber er ließ sich nicht erweichen. Tja … So einer war er.
»Ich wünschte, er wäre jetzt hier«, sagte Ash. »Er wüsste viel besser als Keith, was zu tun ist.«
Beinahe wäre ich mit der Wahrheit rausgeplatzt, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen.
Wahrscheinlich hatte sie gar keine andere Wahl, als Dad zu idealisieren. Sie hatte ihn ja nie richtig kennengelernt, weil sie erst drei war, als er abhaute. Sie hatte also nicht viel Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Und mit der Zeit vergisst man, was man als Kleinkind erlebt hat. Jedenfalls kann ich mich an nichts mehr aus der Zeit erinnern, als ich drei war. Können Sie das etwa? Höchstens fallen einem manchmal irgendwelche Geräusche von früher ein, oder wie man mit seinem Roller einen Hang runtergesaust ist, aber das war’s dann auch schon. Nichts Zusammenhängendes. Nichts, was irgendwie einen Sinn ergibt.
Das Einzige, was Ash von ihrem Dad wusste, war, dass er einen drahtigen braunen Bart hatte, an dem sie gern ihre Wangen rieb. Und das stimmt auch. Er hatte so einen Bart. Aber sonst hat sie ein Bild von ihm, das vorne und hinten nicht stimmt.
Trotzdem … In ihrem Leben ist so viel schief gelaufen, dass ich es mir nie verziehen hätte, wenn ich auch noch ihre Vaterfantasien zerstört hätte.
Aber in Wahrheit bin ich doch derjenige, der sie beschützt. Ich bin der Schutzengel, der ein Auge auf sie hat. So war es schon immer und so soll es auch bleiben.
Ihr geht es doch gut, oder?
Haben Sie mit ihr gesprochen?
Bitte sagen Sie, dass es ihr gut geht!
Sonst sag ich gar nichts mehr.
Gut. An dem Abend also im Wohnzimmer, als sie Mom abgeholt hatten, waren wir beide ziemlich fertig.
Sie hätten mal Asheleys Gesicht sehen sollen! Totale Panik. Sie hatte keine Ahnung, wie es jetzt weitergehen sollte. Da beschloss ich dann, den Helden zu spielen.
Ich grinste und zwinkerte ihr zu. »Bleib da«, sagte ich. »Ich bin gleich zurück.« Dann sprang ich auf, lief schnell zu meinem Zimmer und holte die Sektflasche, die ich da letztes Silvester versteckt hatte, teils, um sie von Mom fernzuhalten, teils aber auch, weil ich dachte, dass ich sie gut gebrauchen könnte, falls ich selbst mal was zu feiern hätte.
Ich hielt die Flasche hoch und kam langsam und effektvoll die Treppe runter.
»Hol zwei Gläser!«, sagte ich. »Das wird jetzt gefeiert.«
»Was wird jetzt gefeiert?«
»Dass ich der beste Golfer von San Luis Obispo bin, das ist doch ein Grund zum Feiern! Und du hast dein Spiel heute doch auch gerockt, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Na also! Und wir wissen ja wohl am besten, was das bedeutet. Sollen wir uns das von Mom etwa kaputt machen lassen?«
»Niemals!« Langsam kam sie in Stimmung.
Sie stellte Weingläser auf die Marmortheke, die Küche und Wohnzimmer trennt, und ich stellte mich so hin, dass der Korken theoretisch vier Stockwerke hochfliegen konnte, bis zum kantigen, ultramodernen Kronleuchter, den Ash und ich immer anzufassen versuchen, indem wir uns vor Moms Zimmer über das Treppengeländer beugen.
Ich riss das Aluminiumpapier von der Flasche und schob den Korken millimeterweise raus. Dann plötzlich – peng – schoss er los, bis zum zweiten Stock. Nicht schlecht fürs erste Mal.
Ich schenkte uns jedem ein Glas ein, hielt meins hoch und sagte: »Und drittens sind wir Mom los. Hey, Ash! Sie ist weg! Wir sind frei! Wenn das kein Grund zum Feiern ist – was dann?«
»Meinst du wirklich?«
»Aber hallo! Wir haben überlebt, solange sie im Haus war, da werden wir es ohne sie ja wohl erst recht schaffen.«
Asheley grinste, wenn auch skeptisch.
Wie prosteten uns zu und tranken.
»Wunderkinder an die Macht!«, sagte ich, und wir stießen die Fäuste aneinander.
Mann, was für eine Erleichterung! Einfach mal laut zu sagen: Mom, ich brauch dich nicht! Plötzlich fühlte ich mich ganz frei, wirklich frei, und nicht nur, weil ich Asheley zuliebe so tat,
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