Brother Sister - Hoert uns einfach zu
bloß ein Briefkasten, ein Busch oder so. Als ob überall Gespenster lauerten. Das war zwar nichts Neues, aber vor Müdigkeit konnte ich diese Gespenster nicht so ausblenden wie sonst.
Im Laden gab’s erst nicht viel zu tun. Als ich die Softeismaschine eingeschaltet, die Schüsseln mit den verschiedenen Streuseln bereitgestellt und Wechselgeld in die Kasse gelegt hatte, saß ich einfach nur rum, hörte Musik von meinem iPod und blätterte in dem Buch, das ich mitgebracht hatte. Alle zehn Minuten nickte ich ein und musste den Kopf wieder hochreißen. Ab und zu kam ein Kunde vorbei. Meist Exhippies. Davon gibt es in dieser Gegend jede Menge. Sie tragen Jeans und Folklorehemden und gehen barfuß mit ihren verdreckten Enkelkindern spazieren. Was die für Fragen stellen! Woher die Milch für unser Eis kommt, ob wir das Eis selbst herstellen, ob unsere Schokostreusel Bio sind und lauter so Zeug. Dann lassen sie sich fünfzig Probierlöffel reichen, um schließlich eine kleine Kugel zu kaufen, die das Gör entweder auf den Boden fallen lässt oder lustlos anstarrt, mit den Worten: »Eigentlich wollt ich gar kein Eis.«
Ja, und wie das Spaß macht! Willkommen in meiner Welt!
Die ganze Zeit sah ich weiter so komische Sachen. Ameisen und Kakerlaken, die über den Tresen krochen und bei näherem Hinsehen gar nicht existierten.
Oder – und das machte mir richtig Angst – Blutspritzer in den Eisbehältern. Ja, wirklich. Das passierte mir vier- oder fünfmal. Ich sah von meiner Arbeit auf und plötzlich waren da diese schleimigen Blutklumpen in den Eisbehältern. Ich fing schon an zu glauben, dass das, was Will und ich getan hatten, Spuren in der materiellen Welt hinterließ. Dass sich alles in meiner Umgebung, ob natürlich oder von Menschen gemacht, gegen mich verbündete, um mir vor Augen zu führen, was wir getan hatten. Aber wenn ich dann genauer hinsah, waren es bloß Kirsch- und Erdbeersoße.
Ich war dem Zusammenbruch nahe und begann zu zittern. Ich hatte Angst davor, was ich noch alles sehen würde, und konnte mich nicht länger als eine halbe Sekunde auf irgendwas konzentrieren.
Und dann rief auch noch Mom an. Ungefähr um halb elf.
Aber da es mir so schlecht ging, war es fast eine Erleichterung. Statt sie erst mal auf die Mailbox sprechen zu lassen und zu hören, was sie wollte, nahm ich ihren Anruf gleich an.
»Ash!«, sagte sie. Ihre Stimme war ganz brüchig und dünn. Sie bloß zu hören, machte mich … ja, fast glücklich.
Sie erzählte, wie es ihr im Hope Hill ergangen war, was sie da alles über sich ergehen lassen musste, wie die Therapien anschlugen und so. Sie sagte, sie hätte endlich begriffen, dass sie mir und Will das Leben verpfuscht hatte. Dass es ihr leid tat, sagte sie nicht, aber an der schlichten, undramatischen Art, wie sie sprach, merkte ich, dass sie vor allem eins wollte: dass ich ihr verzieh.
»Hört sich wie Schwerstarbeit an, was du da leistest«, sagte ich.
»Übertreib nicht«, sagte sie. »Du brauchst mich nicht aufzubauen. Deswegen ruf ich nicht an. Viel zu lange hat sich alles immer nur um mich gedreht. Es ist Zeit, dass ich an euch denke.«
»Ach, mir geht’s so weit ganz gut«, sagte ich zögerlich.
»Da ist Keith aber anderer Meinung. Er sagt, ihr beide hättet gestern Abend ein klärendes Gespräch gehabt.«
»Stimmt.«
»Er ist ein netter Kerl«, sagte Mom. »Manchmal ist er ein bisschen verrückt, aber immer freundlich. Ich glaube, er ist der netteste Mensch, den ich kenne. Ich bin froh, dass ihr euch gestern nähergekommen seid. Es gibt niemanden, der so gut zuhören kann wie Keith. Es würde ihm nie in den Sinn kommen, andere zu verurteilen.«
Ich wollte nicht weinen. Egal, wie müde ich war und wie sehr mich ihr Anruf überwältigte – auf keinen Fall wollte ich schon wieder in Tränen ausbrechen, schon gar nicht vor meiner Mutter, die genug mit sich selbst zu tun hatte.
»Als dann heute noch das mit Craig in den Nachrichten kam, fand ich, ich sollte dich anrufen. Wie hältst du das bloß aus? An deiner Stelle wäre ich so besoffen, dass ich meinen eigenen Namen nicht mehr buchstabieren könnte.«
»Das ist eben der Unterschied zwischen uns, Mom.«
Das sollte ein Witz sein, und ob Sie’s glauben oder nicht: Sie hat es verstanden und gelacht.
»Das kannst du laut sagen«, sagte sie. Dann wurde sie einen Moment ganz still, bevor sie sagte: »Im Ernst, Ash, du musst wissen, ich würde alles tun, um jetzt bei dir zu sein und dich in den Schlaf zu wiegen.«
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