Brown, Sandra - Ein skandalöses Angebot
und stickte an einer Handarbeit, die sie aus Clayton mitgebracht hatte. Elena konnte
ihr keine Gesellschaft leisten, weil sie ihrer Mutter in der
Küche helfen musste.
Der Tag tröpfelte nur so dahin. Lauren, die sonst sehr aktiv war, hatte das Gefühl, er würde nie enden.
Am Spätnachmittag vernahm sie schwere Schritte auf dem
Gang und hob den Kopf von ihrer Lektüre. Irgendjemand
betrat das neben dem ihren gelegene Zimmer. Sie nahm die
Lesebrille von der Nase und lauschte. Schubfächer wurden
geöffnet und geschlossen, Schranktüren geknallt. Ein
schwerer Stiefel polterte zu Boden. Jemand schlurfte auf Socken hin und her.
Lauren vernahm Gläserklirren, Stühlerücken, Wortfetzen,
quietschende Türangeln, Kleiderrascheln.
Kurz darauf hatte die geheimnisvolle Person den Raum
wieder verlassen. Eine Tür fiel ins Schloss, Schritte durchquerten den Gang. Wer mochte in dem Zimmer gegenüber
dem Bad wohnen? Lauren hatte seit ihrem unfreiwilligen
Einzug noch niemanden bemerkt.
Der Abend kam. Lauren stickte, als Elena ihr das Essenstablett brachte und ihr Bett aufschlug.
»Elena«, wollte Lauren wissen, »wer wohnt eigentlich in
dem Zimmer nebenan?«
»Ah! Das ist Señor Jareds Zimmer.« Elenas Augen weiteten sich theatralisch. »Mein Carlos mich gewarnt, niemals
hineinzugehen.« Sie kiekste, während sie das Tablett vor ihrem Kugelbauch balancierte. »Er sagt, Señor Jared kann jede Frau glücklich machen.« Mit einem verschwörerischen
Augenzwinkern schloss sie die Tür hinter sich.
Lauren starrte abwesend auf den hellroten Blutstropfen,
der aus ihrem Finger quoll. Sie hatte sich doch tatsächlich
mit der Sticknadel gestochen!
Kapitel 4
Am Morgen von Ben Locketts Beerdigung war das Wetter
trübe, als trauerte die Sonne um den Mann, der Stunden,
Tage und Jahre in ihrer Gluthitze ausgeharrt hatte, weil er
das Land und seine Extreme liebte.
Zwei geschlagene Tage lang hatte Lauren vom Fenster
aus Scharen von Menschen beobachtet, die zu Bens Begräbnis angereist kamen. Darunter wohlhabende, teuer gekleidete Besucher, aber auch Farmer und Rancher in sauberen, wenn auch zerschlissenen Kleidern. Ihre Frau- 51 en
bewunderten in stummer Ehrfurcht das eindrucksvolle
Haus. Vaqueros in staubigen Lederhosen und -westen trabten auf lahmenden Pferden über das Anwesen. Ob einzeln,
zu zweit oder in Gruppen - der Strom der Trauergäste wollte
nicht abreißen. Heimlich fragte Lauren sich, wie die kühldistanzierte Hausherrin auf all diese Gäste reagieren mochte?
Der dunkel schimmernde, auf Hochglanz polierte Leichenwagen glitt über die Allee. Mit schwarz gerüschten,
fransenumsäumten Portieren, gezogen von mit Federbüschen geschmückten Pferden, der Kutscher in Frack und
Zylinder, mutete er eher wie ein Zirkuswagen an. Ben hätte
sich schwerlich ein so auffällig herausgeputztes Fahrzeug
für seine letzte Fahrt ausgesucht, überlegte Lauren kopfschüttelnd. Wieder verkrampfte sich ihr Herz in Trauer um
den kernigen, lebensbejahenden Mann.
Von ihrem Platz am Fenster aus beobachtete sie, wie Bens
Witwe in Begleitung eines gedrungen wirkenden Mannes
zum Tor schritt. Aus Laurens Perspektive war sein Glatzkopf auf einer Höhe mit Olivias schwarzem, exquisit verschleiertem Hut. Sein schwarzer Frackrock spannte über
einem beachtlichen Leibesumfang. Zaghaft schob er seinen
Arm unter Olivias Ellbogen. Schwer zu sagen, ob sein Zögern Rücksichtnahme auf ihre Trauer war oder Angst, dass
sie ihn eiskalt abschütteln würde. Jedenfalls benahm er sich
dermaßen unterwürfig und servil, dass einem übel werden
konnte.
Lauren zog scharf den Atem ein, als ihr Blick auf die Gestalt fiel, die hinter den beiden auftauchte. Sie erkannte ihn
an seiner sehnigen, hoch gewachsenen Statur, sein Gesicht
wurde wie üblich von einem breitrandigen, schwarzen Hut
beschattet. Er trug einen schlichten, schwarzen Anzug. Und
ignorierte die vielen Trauergäste, die ihm mitfühlend nachblickten, als er seiner Mutter und dem Fremden zu der geschlossenen Kutsche folgte, die hinter dem Leichenwagen
anhielt.
Der Sarg wurde von den Leichenträgern feierlich in den
Wagen geschoben. Ben hätte den ganzen Pomp verabscheut, überlegte Lauren. Bestimmt schwebte er bereits auf
irgendeiner watteweichen Wolke und verfolgte das Getue
um seine sterblichen Überreste mit einem belustigten Augenzwinkern. Leise murmelte sie ein Gebet für den Verstorbenen, währenddessen setzte sich die Prozession hinter
dem Leichenwagen in Bewegung.
Als die
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