Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
als Headliner gebucht. Da die Show entsprechend lang sein durfte, trat Bruce zunächst alleine auf, bevor er für die zweite Hälfte die Band auf die Bühne holte und mit ihnen die härteren Nummern spielte. Dieses zweiteilige Showkonzept behielt Bruce für den größten Teil des kommenden Jahres bei.
In den nächsten Wochen folgten weitere Auftritte, die meisten davon im Vorprogramm von Veranstaltungen in Kenny’s Castaways Club in Manhattans Lower East Side. Das denkwürdigste Konzert aber war dasjenige, das Appel für den Nachmittag des 7. Dezember geplant hatte: ein Club- oder besser Knastkonzert für die Insassen von Sing Sing. Für Bruce war die Show schon allein deshalb etwas Besonderes, weil er nach seinem Großvater Anthony Zerilli, der Ende der 30er-/Anfang der 40er-Jahre dort eingesessen hatte, der Erste aus seiner Familie war, der das Gefängnis von innen sah. Das behielt er allerdings für sich, obschon Appel, der aus diesem Auftritt ein ganz besonderes Event für die Musikpresse machen wollte, diese famose Anekdote sicher begeistert aufgegriffen hätte. Er hatte Unmengen an PR-Material an Journalisten rausgeschickt, von deren Interesse nach der Veröffentlichung von Greetings im Januar viel abhängen würde. Er erhielt allerdings nur eine einzige Antwort, und zwar von Peter Knobler und Greg Mitchell, zwei völlig auf Dylan fixierte Crawdaddy -Redakteure. Sie kamen am Morgen des 7. Dezember in Appels Büro, sprachen mit dem Manager ein bisschen über Bruce und das Album und fuhren dann zusammen mit ihm in einem Konvoi mit den beiden Wagen der Band nach Ossining. »Bruce sah ein bisschen gammelig aus, aber man konnte gut mit ihm reden; er war einer von diesen Typen, die in Sweatshirt, Jeans und Stiefeln rumliefen«, so Mitchell. »Alle waren sehr offen und dankbar für das Interesse, das wir ihnen entgegenbrachten.«
Angesichts der Horde finster dreinblickender Schwerverbrecher, die ihnen gegenübersaß, stimmte die Band, die in der Gefängniskapelle auftrat, ihre Instrumente lieber mit dem Rücken zum Publikum. Es dürfte ihnen mulmig zumute gewesen sein, als Lopez den ersten Song einzählte. Als sie loslegten, wurden die Gefangenen immer mürrischer und aus den hinteren Reihen waren deutliche Unmutsbekundungen zu vernehmen. Daher beendete die Band den Song und machte mit einer anderen Nummer weiter. »Die konnte die Insassen aber ebenfalls nicht besänftigen«, erzählt Mitchell. Mit einem Mal hatten alle die Bilder des Aufstands vor Augen, der sich kurz zuvor in der Attica Correctional Facility, einem Gefängnis am anderen Ende des Staates New York, ereignet hatte, und die anfängliche Verlegenheit wuchs sich zu einer gewissen Panik aus. Doch dann hörte der eigentlich bei Tinker West angestellte Tontechniker Jim Fainer, der extra für diesen Gig gekommen war, genauer hin und stellte fest, dass zwar die Bühnenmonitore, nicht aber die PA funktionierte. »Ich hatte den Stecker falsch rum reingesteckt«, gibt er zu. Die Anlage erwachte genau in dem Moment zum Leben, als Bruce zu Buddy Miles’ R&B-Hit »Them Changes« ansetzte. Die Gefangenen, die die Musik nun endlich richtig hören konnten, johlten begeistert auf und schlugen im Takt die Fäuste gegen ihre Handflächen. Nach dem Ende des Songs taten sie lautstark ihre Begeisterung kund, und gerade als Bruce und die Jungs mit dem nächsten Song weitermachen wollten, »polterte ein kleiner, gedrungener, glatzköpfiger, muskelbepackter Schwarzer den Gang hinauf, als wäre ihm die Polizei noch immer auf den Fersen. Er stürmte am Wachmann vorbei, hechtete auf die Bühne, griff unter sein Hemd und … zog ein Altsaxofon hervor!« (Aus dem Crawdaddy -Artikel von Mitchell und Knobler.)
Bruce sagte einen Zwölf-Takt-Blues in C-Dur an. Die Band begann zu spielen, aber alle hielten sich zurück, während der ominöse Kerl mit dem Saxofon seinen Auftritt hatte. Das Ganze hätte ziemlich peinlich werden können, wäre der Mann nicht, wie Mitchell und Knobler berichteten, »fabelhaft« gewesen. Wunder gibt es immer wieder. Als sich der ungeladene Musiker in die Obhut des Wachpersonals zurückbegab, spendeten ihm alle Musiker großen Applaus und Bruce rief ins Mikro: »Wenn das hier vorbei ist, dürft ihr alle nach Hause gehen!«
Am Abend sahen sich die Crawdaddy -Redakteure auch noch den Auftritt der Band in Kenny’s Castaways Club an. »Ich hatte damals keinen Zugang zu seinen Texten und hätte nicht sagen können, ob er ein guter Songwriter war oder
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