Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
nicht«, sagt Mitchell, »aber er und die Band gefielen mir einfach, und allein der Vibe und die Stimmung, die sie erzeugten, imponierten uns so sehr, dass wir alles andere absagten und uns den Gig ansahen.« Das Publikum, das sie bei Kenny’s erwartete, bestand aus etwa dreißig Clubbesuchern, die viel zu sehr mit ihren Drinks und ihren Freunden beschäftigt waren, als dass sie einen Blick für die Band übrig gehabt hätten, die auf der kleinen Bühne des Clubs spielte.
Die Band trat dort noch drei weitere Abende in Folge auf, dann ging es nach Ohio, wo sie in Dayton (wo die Veranstalter im Glauben waren, sie hätten einen Herren namens Rick Springsteen gebucht) 3 und Columbus im Vorprogramm von Sha Na Na, einer 50er-Jahre Comedy-Retro-Band, spielten. Anschließend fuhren sie zurück nach New Jersey und erwarteten gespannt den 5. Januar 1973 , den Tag der Veröffentlichung von Greetings from Asbury Park, N.J.
»Madman drummer bummers, and Indians in the summer, with a teenaged diplomat/In the dumps with the mumps as the adolescent pumps his way into his hat.« Dies sind die ersten beiden Zeilen aus »Blinded by the Light«, und sie wurden rezitiert von Clive Davis, der dabei hinter seinem Schreibtisch saß und in die Linse einer Videokamera starrte, die seine Ansprache aufzeichnete, damit sie Radiomoderatoren, regionalen Vertriebspartnern und Plattengeschäftbesitzern in ganz Amerika vorgespielt werden konnte. »Ich wollte nur sichergehen, dass den Leuten die Einzigartigkeit seiner Texte auch bewusst wird«, sagt Davis. Aus dem Mund des einundvierzigjährigen Plattenbosses in Hemd und Krawatte klangen sie in der Tat außergewöhnlich. »Seine Performance hätte wohl nicht unbedingt für den Broadway gereicht«, erzählt der damalige Marketingleiter Al Teller. Aber allein die Tatsache, dass Davis Zeit und Mühe darauf verwandte, die Musikbranche wissen zu lassen, wie sehr er an diesen Künstler glaubte, war aufsehenerregend genug. »Dass Clive sich so sehr für Bruce und das Album einsetzte, verlieh dem Ganzen ein enormes Gewicht«, so Teller. »Jede Niederlassung erhielt außerdem handgeschriebene Anmerkungen von ihm [zu Bruce]. Er war sehr stark in alle Abläufe [im Zusammenhang mit der Veröffentlichung und Vermarktung des Albums] eingebunden.«
Weiter konnte der Einsatz des Chefs eines Unternehmens, für das der Geschmack des Einzelnen und persönliche Loyalitäten entscheidend waren, kaum gehen. Vor allem dann nicht, wenn es um einen etwas verkommen wirkenden, unbekannten Musiker ging, dessen Sound keinerlei Beziehung zu den aktuellen Radiohits erkennen ließ. »Ich würde nicht sagen, dass Greetings grenzenlose Begeisterung hervorrief«, sagt Ron McCarrell, der damals zweiundzwanzigjährige Leiter des Programmbereichs College Publicity. Ihm musste man Bruce Springsteen allerdings nicht mehr schmackhaft machen, denn er hatte ihn in Kenny’s Castaways Club schon live erleben dürfen. Die zweigeteilte Show mit dem Akustikprogramm zu Beginn und dem Bandauftritt am Ende hatte auf ihn etwas uneinheitlich und zerfahren gewirkt; wie das Werk eines Künstlers, »der noch dabei ist, herauszufinden, was geht und was nicht«. Warum er dennoch sofort begeistert war? McCarrell schüttelt den Kopf. »Er hatte etwas Besonderes … Er war sich noch nicht im Klaren darüber, was das war, und wir waren es ebensowenig. Aber es war da.« Wie John Hammond, Clive Davis und die kleine aber stetig wachsende Gruppe von Fans bei Columbia Records im CBS Black Rock Building an der Sixth Avenue war er entschlossen, alles zu tun, um aus Bruce Springsteen einen Star zu machen. Paul Rappaport: »Ich weiß noch, wie ich vor Aufregung auf einem Sofa hinund herrutschte, um Geld für Liveübertragungen bettelte und brüllte: ›Wir stehen kurz davor Rock’n’Roll-Geschichte zu schreiben!‹ Wir waren definitiv so etwas wie eine Bruderschaft, eine verschworene Gemeinschaft. Jeder war auf derselben Mission.«
Auf Geheiß von Davis machten die regionalen Vertriebsmitarbeiter die Runde bei Radioanstalten und in Plattenläden, wo sie Davis’ PR-Ansprache auf ihren koffergroßen Fairchild-Videogeräten vorführten und die Räume mit Werbedisplays und Postern tapezierten. Kurz nach Neujahr begann die Ausstrahlung eines Hörfunkspots bei den großen Radiosendern: »Bruce Springsteen packt mehr Bilder in einen Song als die meisten Musiker auf ein ganzes Album!« Als die Platte am Morgen des 5. Januar endlich in den Regalen stand, war das
Weitere Kostenlose Bücher