Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
Interesse der Öffentlichkeit dennoch nicht gerade überwältigend. In Bruce’ Heimat allerdings nahmen der Stolz und die freudige Erwartung mitunter bemerkenswerte Formen an. In Freehold verwandelte Victor Wasylczenko die Schaufenster seines Plattenladens und fast seine gesamte freie Wandfläche in eine einzige gigantische Werbefläche für Greetings, indem er sie mit unzähligen Alben, Postern und Promotionfotos schmückte. »Es sah aus, als gäbe es bei mir nichts anderes als Bruce«, sagt Wasylczenko. »Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, jedem, der in den Laden kam, ein Exemplar des Albums zu verkaufen.« Die Verkaufsförderungsmaßnahmen waren jedoch nicht so erfolgreich, wie der Ladeninhaber gehofft hatte. »Am ersten Tag habe ich mehr Alben von der Partridge Family als von Bruce verkauft. Es war sogar so, dass ich am Tag der Veröffentlichung seines Debütalbums in Bruce’ Heimatstadt eine rekordverdächtige Menge an Partridge-Alben absetzen konnte.«
Das war allerdings nicht wirklich überraschend. The Partridge Family Notebook hatte eine sehr beliebte, wöchentlich ausgestrahlte TV-Serie im Rücken, wohingegen Greetings genauso exzentrisch klang wie der bärtige Typ, der auf der Rückseite des Covers abgebildet war, aussah. Auf den ersten Blick konnte man durchaus zu der Auffassung gelangen, dass man es hier mit einem weiteren melancholischen Troubadour zu tun hatte, der vergeblich versuchte, in Dylans Fußstapfen zu treten.
Überall dort, wo es Greetings bis auf den Plattenteller schaffte, zeigte sich allerdings, dass man es mit etwas ganz anderem zu tun hatte: mit einer Sammlung wendungs- wie wortreicher Songs, die alle ihren individuellen Stil und Sound hatten und deren verbindendes Element eine Stimme war, die von Trauer und Schmerz gezeichnet schien und gleichzeitig von überbordender Lebensfreude.
»Blinded by the Light« beginnt mit einem schnellen Lauf über den Gitarrenhals, der in einen Sturm von Fingerpicking-Klängen, Bass-Zooms und Drum-Fills mündet, der plötzlich auch noch von Saxofonstößen getragen wird. Kurz vor der ersten Strophe formt sich daraus ein harmonisches Ganzes. In den Lyrics beschwört Bruce eine Fülle an Erinnerungen, Beobachtungen und Fantasien herauf, sodass dieser Song gewiss als erste der von ihm später so genannten »twisted autobiographies« gelten kann. 4 Tatsächlich findet sich hier alles wieder: undisziplinierte Drummer; Little-League-Spiele; Teenager, deren Gedanken sich vor allem um Sex drehen; schnelle, getunte Autos; Vergnügungsparks, an denen der Zahn der Zeit nagt; böswillige Polizeibeamte und Corn Dogs genannte Würstchen am Stil, von denen das Fett und die Soßen auf den Promenadenboden tropfen. Doch alles erscheint in einem sonderbaren Licht, als wären die erzählten Szenen bereits dabei zu verblassen, denn alle wollen irgendwo anders hin, alle jagen etwas Größerem hinterher, und sei es auch nur ein kurzer Blick in das Zentrum dieses unendlichen Was-auch-immer-es-sein-mag.
Das ausschweifende Geschichtenerzählen setzt sich in »Growin’ Up«, den Erinnerungen eines Außenseiters in der Highschool, fort und wendet sich in der urbanen Fantasie »Does This Bus Stop at 82nd Street?« der Gegenwart zu. Hier staunt ein Hinterwäldler aus New Jersey über die eigentümliche Farbigkeit der Werbeplakate und StripClub-Schilder und über die unendlichen Schattierungen in dem Gewimmel auf den Bürgersteigen, bis er etwas entdeckt, dass ebenso schön wie füchtig ist: Eine Frau wirft eine Blume in die Luft, und ein Mann fängt sie auf – und das, was dann folgt (und nicht mehr erzählt wird) lässt die Musik und alles andere unwichtig werden.
Auch die Bildsprache der beiden Akustiksongs »Mary Queen of Arkansas« und »The Angel« ist bemerkenswert, wobei im Fall von »The Angel« verhaltene Klavierklänge und ein mit dem Bogen gestrichener Kontrabass (den der Studiomusiker Richard Davis spielte) für die passende Atmosphäre sorgen. Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet sind diese beiden Songs deshalb so interessant, weil sie bereits einige von Bruce’ Leitmotiven erkennen lassen, die sich damals herausbildeten. In »The Angel« sind dies die Faszination, die von der Straße ausgeht, und die Gefahr, die im Schatten lauert, während sich in »Mary« bereits das Thema des noch ungeschriebenen »Born to Run« abzeichnet: die ewige Sehnsucht danach, woanders zu sein. »But I know a place where we can go, Mary«, endet der Song, »where I can get a good job
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