Bruder Cadfael Und Der Hochzeitsmord
bekam.
Sobald der Junge fort war, erhob sich Bruder Mark von seinem Tisch. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt, aber noch war es hell. Bis zum Vespergottesdienst würde noch eine Stunde vergehen. An der Friedhofsmauer saß niemand mehr.
Joscelins Lucys große, hochaufgerichtete Gestalt schlenderte ohne Eile, wie einer, der einen Abendspaziergang macht, die grasbewachsene Böschung hinunter, blieb kurz stehen, um sich zu vergewissern, daß die Straße leer war, überquerte sie und ging auf den Baum zu, unter dem der alte Lazarus noch immer reglos saß.
Bruder Mark verließ seinen Platz und folgte ihm in einigem Abstand.
Lange Zeit regte sich nichts unter dem Baum. Dann bewegten sich die beiden Männer, tauschten einige Worte aus; offenbar verstanden sie sich auch, ohne viel zu sagen. Aus dem Zwielicht, in das eine verhüllte Gestalt eingetaucht war, erschien eine andere, die sich gegen den blassen Himmel abhob: Ein großer, schlanker Mann ohne Mantel und Kapuze, der einfache, dunkle Kleider trug, so daß er mit den Schatten verschmolz. Er wandte sich wieder dem Baum zu. Mark glaubte zu erkennen, daß er sich, da der andere ihm nicht seine Wange darbot, zu einer Hand hinabbeugte. Gewiß gab er Lazarus einen Kuß, wie er unter Verwandten üblich ist.
Der weite blaue Mantel, das Kennzeichen des Aussätzigen, blieb unter dem Baum zurück. Offenbar wollte er das Hospiz von Saint Giles bei dem riskanten Unternehmen, das er vorhatte, keiner Gefahr aussetzen. Joscelin Lucy, der in diesem Augenblick nur das besaß, was er war und was er am Körper trug, ging mit langen, leichten Schritten den Hügel hinab ins Tal. Eine halbe Stunde noch bis zur Vesper, und im offenen Gelände war es immer noch gefährlich hell.
Bruder Mark wußte jetzt, was er zu tun hatte. Er schlug einen weiten Bogen um den Baum, unter dem Lazarus saß, und folgte Joscelin. Für die langen Beine des jungen Mannes stellte der Mühlkanal kein großes Hindernis dar. Mark jedoch war gezwungen, einen etwas unbeholfenen Sprung zu tun. Der Meole-Bach floß murmelnd durch sein steiniges Bett. Im trügerischen Abendlicht verschätzte sich Mark und landete mit einem Fuß im Wasser, erreichte das andere Ufer jedoch, ohne weiteren Schaden zu nehmen, und folgte Joscelin durch die Wiesen am Bach.
Auf halbem Weg zum Klostergarten bog der junge Mann plötzlich vom Bach ab und schlug sich in ein kleines Wäldchen am Rande der Wiesen. Bruder Mark tat es ihm gleich, wobei er jeden Baum als Deckung benutzte. Seine Augen hatten sich inzwischen an das Zwielicht gewöhnt, so daß er das Gefühl hatte, als werde es noch lange hell bleiben. Der Abendnebel war noch nicht aufgekommen, und die Luft war klar und rein. Zu seiner Rechten, auf der anderen Seite des Baches, hoben sich die Umrisse des Klosters mit seinen Dächern, Türmen und Mauern vom rosigen Abendhimmel ab, und die sanft ansteigenden Erbsenfelder und die Mauern und Hecken der Gärten dahinter waren gut zu erkennen.
Der Abend senkte sich herab; die Farben der Wiesenkräuter leuchteten noch einmal auf, bevor alles in verschiedene Grautöne getaucht war. Unter den Bäumen war alles dunkel, aber Mark, der sich vorsichtig voranschlich, konnte vor sich einen Schatten erkennen, der sich bewegte. Er vernahm auch schwache Geräusche: ein unruhiges Stampfen, und dann plötzlich ein leises, erregtes Wiehern, das, wie er glaubte, eilig durch eine liebkosende Hand gedämpft wurde. Er hörte ein Flüstern, kaum lauter als das Rascheln von Blättern, und dann tätschelte dieselbe Hand eine glatte, feste Schulter. Die Geräusche drücken ebenso deutlich wie Worte Freude und Hoffnung aus.
Von seinem Versteck unter den Bäumen, einige Meter entfernt, konnte Bruder Mark den silbergrauen Kopf und Hals eines Pferdes erkennen. Für ein solches nächtliches Unternehmen eignete sich diese Farbe nicht sonderlich gut. Der Verfolgte hatte also jemanden, der zu ihm hielt und ihm sein Pferd hierher gebracht hatte. Was würde als nächstes geschehen?
In diesem Augenblick ertönte vom Kloster her der leise, aber deutliche, helle Klang der Vesperglocke.
Etwa zur selben Zeit stutzte auch Bruder Cadfael beim Anblick eines hellgrauen Pferdes und hielt sein Maultier an, um es nicht aufzuscheuchen, während er überlegte, wie das Tier hierher gekommen sein könnte.
Er hatte es nicht eilig gehabt, sich zu verabschieden, denn er war der Meinung gewesen, er schulde der Mutter Superior von Godric's Ford wenigstens eine glaubwürdige Erklärung für
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