Bruder Cadfaels Buße
vollständigen Liste. Niemand hat Olivier zum Freikauf angeboten. Niemand hat gesagt, wer ihn gefangen hält, obwohl es doch gewiß jemand wissen muß.«
»Mein Onkel Laurence hat überall herumgefragt«, stimmte ihm Yves zu, »aber nichts in Erfahrung gebracht.
Aber er wird älter und man braucht ihn in Devizes, wo die Kaiserin vorwiegend Hof hält. Daher bin ich entschlossen, die Angelegenheit in Coventry zur Sprache zu bringen und werde nicht ruhen und rasten, bevor ich eine Antwort habe. Man kann sie mir nicht verweigern.«
Cadfael, der schweigend zugehört hatte, schüttelte angesichts solch kindlichen Vertrauens leicht den Kopf.
Es wirkte fast liebevoll. Weder der König noch die Kaiserin, die beide den Sieg fast in Reichweite wähnten, dürften bereit sein, sich auf ein privates Rechtsersuchen einzulassen, wie es sich dieser treuherzige junge Mann von edler Abkunft vorstellte. Er glaubte noch an Recht und Gerechtigkeit und meinte, einen Anspruch auf rücksichtsvolle Behandlung zu haben. Vermutlich würde er noch einige Male unsanft mit der Wirklichkeit zusammenprallen müssen, bis er gegen die Welt und den Teufel vollständig gewappnet war.
»Anschließend ist Philip mit Mann und Maus zu König Stephen übergelaufen und hat ihm die Burg Cricklade samt Besatzung, Waffen, Rüstungen und allem sonstigen Zubehör ausgeliefert. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was ihn dazu veranlaßt hat. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, um dahinterzukommen. War es einfach Berechnung, weil er glaubte, er stehe auf der Verliererseite und könne durch den Seitenwechsel sein Geschick günstig beeinflussen? War es eine kaltblütig überlegte Tat, oder hat er im Zorn gehandelt, von Bitterkeit gegen den Vater erfüllt, der die Burg Faringdon ihrem Geschick überlassen hatte? Hatte er gar Faringdon von Anfang an verraten? Hat man sie in seinem Auftrag der Gegenseite angeboten? Ich kann ihn nicht verstehen.«
»Aber zumindest habt Ihr ihn gesehen und unter ihm gedient«, sagte Hugh. »Ich kenne ihn nicht. Auch wenn Ihr Euch nicht über sein Tun klar seid, so wart Ihr doch an seiner Seite und habt eine Vorstellung von ihm.
Wie alt ist er? Doch wohl höchstens zehn Jahre älter als Ihr?«
Ungeduldig schüttelte Yves seine Verwirrung ab und überlegte. »Er dürfte um die dreißig sein. Sein älterer Bruder William, Roberts Erbe, ist wohl einige Jahre älter als er. Zwar suchen Philip von Zeit zu Zeit düstere Stimmungen heim, und er spricht nicht viel, ist aber ein guter Heerführer. Hätte man mich damals gefragt, ich hätte gesagt, daß ich ihn gut leiden könne. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, er könnte zum Verräter werden - schon gar nicht aus Angst oder Gewinnsucht...«
»Laßt es gut sein«, sagte Cadfael besänftigend, als er erkannte, wie sehr sich der junge Mann mit Fragen abquälte, die er nicht verstand. »Wir sind unser drei und werden dafür sorgen, daß Olivier die Freiheit erlangt.
Wartet ab, bis wir in Coventry sind. Dort wollen wir sehen, was sich in Erfahrung bringen läßt.«
Am folgenden Tag - es war kühl, aber die Sonne schien - ritten sie einige Stunden vor dem Abend in Coventry ein.
Der Ritt hatte Yves eine Weile von seiner Besessenheit abgelenkt. Seine Augen leuchteten und seine Wangen glühten rot. Da sie sich der Stadt von Norden näherten, stießen sie als erstes auf Graf Leofrics alte hölzerne Verteidigungsanlage, die durchaus noch Widerstand zu leisten vermochte. Die Straßen der Stadt waren gepflastert und auch sonst in gutem Zustand, seit die Bischöfe sie zum Hauptort ihres Bistums ausersehen hatten. Roger de Clinton war davon nicht abgerückt, obwohl Lichfield seinem Herzen näherstand, denn in jenen unruhigen Zeiten lag Coventry näher am Herd der Unruhe und lief eher Gefahr, hin und wieder von einem der rivalisierenden Heere überfallen zu werden. Er aber war nicht der Mann, sich einer Bedrängnis zu entziehen, die seine Herde ertragen mußte.
Zweifellos bedeutete die Anwesenheit dieser respektheischenden Persönlichkeit einen gewissen Schutz für die Stadt. Dennoch sah man auf den Straßen Schäden und Verfall und gelegentlich auch eine Lücke mit gezackten Rändern, wo man ein bis auf die Grundmauern zerstörtes Haus noch nicht wieder aufgebaut hatte. Es war nicht weiter verwunderlich, daß in einem Land, in dem sich zwei miteinander verwandte Herrscher seit Jahren in äußerst unverwandtschaftlicher Weise mit Waffengewalt bekämpften, Plünderungen durch unabhängige
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