Bruder Cadfaels Buße
stieß er auf breite Sumpfwiesen. Sie zogen sich zu beiden Seiten eben jenes Flusses Severn entlang, den er in Shrewsbury hinter sich gelassen hatte, nur daß er hier doppelt so breit war und mächtig dahinströmte. In der offenen Landschaft herrschte noch helles Tageslicht, und hinter einigen Bäumen sah er nahe dem Wasser gelblichsilbern das Mauerwerk eines Kirchturms aufschimmern. Es war solide sächsische Arbeit, wuchtig und ebenso fest wie der Bergfried einer Burg. Im Näherkommen erkannte er immer deutlicher die lange Linie des Dachs über dem Langschiff und dann im Ostteil des Gebäudes die vielfach gegliederte Apsis mit ihrem halbkreisförmigen Grundriß.
Der Bau war mehrere Jahrhunderte alt und unter Eduard dem Bekenner, der stets mehr der normannischen als der englischen Seite zugeneigt hatte, neu gegründet und dem heiligen Dionysius geweiht worden. Erneut spürte Cadfael, wie er sich nur mit einem gewissen Zögern dem benediktinischen Umfeld nähern konnte, das ihm so viele Jahre Heimat bedeutet hatte. Es kam ihm vor, als sei er dessen unwürdig und habe dort kein Bleiberecht. Doch sofern er nach dem Wissen forschen wollte, das er brauchte, mußte er die Täuschung auf sein Gewissen laden. Wenn seine Mission vorüber war, würde er alles wieder gutmachen, immer vorausgesetzt, er überlebte das Abenteuer.
Der Bruder Pförtner, der ihn in den Hof einließ, war ein rundlicher Gemütsmensch in mittleren Jahren, stolz auf sein Kloster und nur allzu gern bereit, die Schönheiten von dessen Kirche vorzuführen. Am Südteil des Chors wurde gearbeitet, und eine Bauhütte, neben der unter einer Abdeckung Steinquader aufgestapelt waren, stand dicht an der Apsismauer. Zwei Steinmetze waren mit ihren Gehilfen dabei, Steinquader zurecht zu klopfen.
Nach einer Weile legten sie das Werkzeug beiseite, weil es zum Arbeiten zu dunkel wurde. Der Bruder Pförtner wies auf die Fundamente, die den Umriß der vorgesehe' nen Erweiterung des Gebäudes erkennen ließen. »Hier errichten wir eine weitere Kapelle, die nach Südosten geht, und auf der Nordseite wird eine ebensolche Kapelle angebaut. Unser Steinmetz, Meister Bernard, stammt aus dem Dorf, und die Arbeit an der Kirche ist sein ganzer Stolz. Er ist ein guter Mensch, denn er gibt einigen Unglücklichen Arbeit, bei denen so mancher andere Meister sagen würde, es verlohne der Mühe nicht. Sieh seinen Gehilfen dort: noch kürzlich war er Krieger, doch hat er von einer Verwundung ein lahmes Bein zurückbehalten und kann seinem Herrn im Kampf nicht mehr nützen.
Der Steinmetz hat ihn eingestellt und es bisher nicht zu bereuen brauchen, denn der Mann arbeitet gut und schwer.«
Der Genannte zog sein linkes Bein nach, vermutlich als Folge eines schweren Knochenbruchs. Er war ein etwa dreißigjähriger gutgebauter, kräftiger Mann mit langen Armen und großen Händen, der sich trotz seiner Behinderung äußerst geschickt bewegte. Höflich trat er beiseite, um die Klosterbrüder vorbeizulassen, dann beendete er seine Arbeit und folgte dem Steinmetz zum äußeren Tor.
Bisher hatte es lediglich leichten Bodenfrost gegeben, denn sonst hätte man die Bauarbeiten für den Winter bereits einstellen und die emporwachsenden Mauern bis zum Frühjahr mit Torf, Heidekraut und Stroh abdecken müssen.
»Wenn es kälter wird, finden die Leute drinnen Arbeit«, sagte der Bruder Pförtner. »Komm und sieh.«
In der Prioreikirche von Deerhurst gab es noch keinerlei Hinweise auf den normannischen Baustil; alles war sächsisch, und die frühesten Mauern des Kirchenschiffs bereits Jahrhunderte alt. Erst als der Bruder Pförtner dem Besucher alle Schönheiten und Sehenswürdigkeiten seiner Kirche gezeigt hatte, reichte er ihn dem für die Betreuung von Gästen zuständigen Bruder Hospitalmeister weiter, damit ihm dieser ein Nachtlager anwies und ihn bei der Abendmahlzeit in der Runde der Mitbrüder willkommen hieß.
Noch vor der Komplet fragte Cadfael nach dem gelehrten Mönch, der die Wappen und Siegel aller Adelshäuser Englands kannte. Als er Bruder Eadwin die Zeichnungen zeigte, die er in Coventry angefertigt hatte, musterte dieser sie gründlich und schüttelte dann den Kopf: »Nein, das habe ich noch nie gesehen. Es gibt Adelsfamilien, in denen einzelne Mitglieder unterschiedliche persönliche Wappen führen, Abwandlungen des Familienwappens. Das hier ist wirklich auffällig, aber ich kenne es nicht.«
Auch der Prior und die anderen Mönche schienen es bis dahin nicht gesehen zu haben.
Weitere Kostenlose Bücher