Bruderdienst: Roman (German Edition)
demnächst scheiden lassen. Ich möchte Dir das gern erklären, weil Du bestimmt oft darüber nachdenkst und nicht so richtig weißt, wie es dazu gekommen ist.
Wenn Du oben auf diesen Briefbogen schaust, wirst Du sehen, dass ich Dir aus Seoul in Südkorea schreibe, dass ich in diesem Moment also viele Tausende von Kilometern von Dir entfernt bin. Ich warte in diesem Hotel auf einen Mann, den ich nach Berlin begleiten soll, weil er wichtige Informationen für unsere Regierung hat. So etwas ist ein Teil meiner Arbeit. Ich bin sozusagen ein Jäger von Informationen. Aber davon später.
Wir, Deine Mutter und ich, haben uns getrennt, weil unsere Liebe zueinander irgendwann nicht mehr da war, wir haben sie verloren. So etwas stellt man mit sehr großem Erschrecken fest, aber daran ändern kann man nichts. Die Menschen wollen ewige Liebe, sie wollen, dass die Liebe niemals aufhört, aber sehr viele müssen erleben, dass ihre Liebe nicht von Dauer ist. Sie kommt und geht. Es ist ein schrecklicher Gedanke für mich, dass Du als unser Kind zwischen uns stehst und nicht weißt, was da geschehen ist. Mama und ich haben uns also getrennt, wir haben gesagt: Wir leben nicht mehr zusammen, keiner steht dem anderen im Weg, keiner redet Böses über den anderen, jeder lebt sein Leben und bleibt trotzdem auch für den anderen da. Vielleicht hast du mal von jemandem gehört, dass bei einer Scheidung immer die Kinder leiden. Das ist leider richtig. Und das liegt auch daran, dass sie auf viele Fragen keine Antworten bekommen. Ich weiß genau, dass Dir die Entscheidung von Mama und mir sehr wehtut, aber sei ganz sicher, dass auch mir das große Schmerzen bereitet.
Es kommt noch hinzu, dass ich einen merkwürdigen Beruf habe. Wenn ich sage, dass ich ein Jäger von Informationen bin, dann bedeutet das auch, dass ich sehr viel unterwegs bin, in anderen Ländern, in großen Städten, weit entfernt. Und ich weiß nie, wann ich wieder zu Hause bin. Deine Mama arbeitet in einer Bank, sie hat dort einen genau festgelegten Rahmen. Sie muss morgens zu einer bestimmten Zeit zu ihrer Arbeit fahren, aber sie weiß genau, wann sie wieder zu Hause ist. Ich weiß das nie, und manchmal macht mich das ganz elend, denn ich kann Dich nicht treffen, wann ich das will, ich kann nie anrufen und sagen: Komm, wir gehen ein Eis essen, oder so was. Jetzt liege ich zum Beispiel hier im Hotel herum. Ich weiß nicht genau, wann sich der Mann meldet, ich weiß nicht genau, ob ich morgen heimfliegen kann oder erst übermorgen. Und es kommt noch hinzu, dass ich den Mann in einem kleinen Schiff abholen muss, von irgendeiner Insel aus dem Chinesischen Meer. Und was mich genau erwartet, weiß ich nicht zu sagen …
Er brach ab, fand den Brief hohl, aufdringlich. Er hatte sich im Verdacht, einen Freispruch erster Klasse damit erwirken zu wollen. Für Sekunden war er so wütend, dass er die Seiten zusammenknüllte und in den Papierkorb warf. Dann holte er sie wieder heraus, glättete sie und zerriss sie sehr sorgfältig in kleine Streifen. Die Macht der Gewohnheit.
Er zog sich aus und legte sich auf das Bett, schaltete den Fernseher ein. Er starrte auf den Bildschirm, zappte sich durch die Programme und fand sie noch furchtbarer als in Deutschland. Er schaltete den Apparat wieder aus. Irgendwann schlief er ein.
Als das Telefon wenige Stunden später klingelte, war es halb vier in der Nacht. Müller meldete sich verschlafen, und eine Frauenstimme sagte: »Hier wartet ein Besucher auf Sie, Mister Dieckmann.«
»Ja, ich komme«, antwortete er.
Der Mann, der in der Hotelhalle auf ihn wartete, war ein kleiner Koreaner, ungefähr vierzig Jahre alt. Er trug einen bunten Pullover, Jeans, weiße Nikes und kam mit ausgestrecktem Arm auf Müller zu. Mit starrer Miene sagte er: »Ich freue mich, Sie zu sehen. Und ich hoffe, es geht Ihrer Familie gut.«
»Es geht uns gut«, erwiderte Müller. »Hat die Großmutter die Krankheit überstanden?«
»Ja, ja«, sagte der Koreaner. »Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen worden.« Dann wies er auf eine lederne Sitzgruppe, und sie setzten sich dort einander gegenüber. Die Halle war leer bis auf drei Hotelangestellte hinter dem Empfangstresen und zwei offensichtlich völlig betrunkenen europäischen Gäste um die dreißig, die in einer anderen Sitzecke hockten und sich nicht zwischen einem letzten Glas oder ihrem Bett entscheiden konnten.
»Der Chef würde gern um sechs Uhr auslaufen«, sagte der Mann.
»Wer ist denn der
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