Bruderdienst: Roman (German Edition)
vor ihm lag ein taghell erleuchteter Containerhafen in vollem Betrieb, die Schiffe waren hoch wie Wolkenkratzer und wirkten bedrohlich. Links wurde der Hafen enger, familiärer, die Schiffe rührend klein. Zwischen den Containern war kein Mensch zu sehen, alles lief automatisch ab. Im Fischereihafen dagegen waren viele Männer und Frauen unterwegs, die schwere, hochrädrige und mit Kisten bepackte Karren zogen und laut miteinander sprachen und lachten. Er hatte nur einen vagen Anhaltspunkt: Fischerboot mit zwei roten Lichtern am Bug.
Er war schon eine gute halbe Stunde unterwegs, als er auf ein Hafenbecken stieß, in dem Boote still an der Leine lagen und vor sich hin dümpelten. Und da war auch das Boot mit den zwei roten Lichtern. Müller ging über ein Brett an Bord und sagte laut auf Englisch: »Guten Morgen, hier bin ich!« Er wartete auf irgendeine Antwort. Aber alles blieb still.
Er hatte nicht sonderlich viel Ahnung von Booten, aber dies hier war ein Schrotthaufen, und offensichtlich gab es keine Menschenseele an Bord. Er sah einen Steuerstand mit einem Steuerrad darin. Also öffnete er den Stand und entdeckte einen Mann, der mit weit ausgebreiteten Beinen am Boden saß, den Rücken am Steuerrad und in der rechten Hand eine Flasche mit wässrigem Inhalt. Der Kopf des Mannes pendelte hin und her.
»Fluch der Karibik«, murmelte Müller.
»Mister«, sagte der Mann sehr laut und sehr deutlich. »Ich brauche nur einen Kaffee!«
»Sicher doch«, nickte Müller. »Doppelten Espresso? Oder lieber Latte macchiato?«
»Da!«, sagte der Mann und deutete mit der Schnapsflasche auf einen Topf mit einem Tauchsieder.
»Wir Deutschen sind berühmt für unseren Service«, versicherte Müller, während er den Betrunkenen wie ein seltenes Insekt anstarrte.
Noch viele Monate später erinnerte sich Müller an seinen allerersten Gedanken beim Anblick des vollkommen betrunkenen Skippers. »Das Ding geht schief, das muss einfach schiefgehen!«
SECHSTES KAPITEL
Das Sekretariat meldete, Svenja sei jetzt im Haus.
»Rein mit ihr. Und du bleib bitte auch da«, bat Krause Sowinski, der gerade wieder bei ihm saß. »Ich möchte noch ein paar heikle Kleinigkeiten klären.«
Svenja war auch völlig ungeschminkt eine betörend schöne Frau. Weil sie immer ein wenig wie ein Cowgirl gekleidet war, wirkte sie burschikos, kumpelhaft, wie die ewige beste Freundin der besten Freundin, mit der man Pferde stehlen konnte. Und auch ein bisschen naiv. Das war ihr völlig bewusst, und sie wollte es auch so.
»Nehmen Sie Platz. Es geht noch mal um Ihr Erinnerungsvermögen, meine Liebe. Wir haben neulich ja schon über Ihre Reise nach Nordkorea gesprochen. Wir wollen keine Einzelheiten erläutert haben, es geht vielmehr um ein paar Minuten oder Stunden, die Sie in der US-amerikanischen Botschaft in Peking verbracht haben. Einmal direkt nach Ihrer Ankunft, dann, als Sie nach der Operation dort wieder eintrafen. Können Sie das bitte einmal genau schildern? Ich weiß, dass Sie keine guten Erinnerungen an diesen Einsatz haben, aber es muss sein, und bei nächster Gelegenheit werden Sie von mir auch erfahren, warum.«
Svenja beugte sich vor, den rechten Ellenbogen auf dem rechten Oberschenkel abgestützt, die Hand mit den langen, eleganten Fingern an ihrer Stirn. »Geht es um Menschen, geht es um Verwaltungsdinge, Rituale, Zuständigkeiten? Also, ich meine, auf was wollen Sie denn hinaus?« In ihrer Stimme lag Abwehr.
»Keine Konzentration auf irgendetwas Bestimmtes«, erklärte Krause sanft. »Wann kamen Sie an? Tageszeit, bitte. Wie war das Wetter? Wer begrüßte Sie? Wer servierte die erste Coke? Wer kümmerte sich um Sie? Wer war der zweite Mann, wer der dritte? Einfach alles eben.«
»Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht. Also, es war der 24. April. Ich kam gegen Mittag an, ja, es war Mittag. Ich kam mit einer Legende der amerikanischen Brüder mit einem Direktflug aus Los Angeles. Als Sissy Pistor, Botschaftsangehörige, der Rest steht im Operationsbericht. Ich musste nicht durch den Zoll, die Chinesen waren sehr höflich und zuvorkommend. Ein Wagen der Botschaft holte mich ab, um das Gepäck kümmerte sich jemand, ich weiß nicht, wer. Da gab es einen jungen Botschaftsbeamten, der sich um mich kümmerte, Shawn. Ein reizender junger Mann, wirkte wie ein Praktikant. Ich glaube nicht, dass er irgendeine Bedeutung hatte, und ich sah ihn auch nicht mehr wieder, nachdem er mich in der Botschaft abgeliefert hatte. Man gab mir ein Zimmer,
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