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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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im verschlafenen Süden?«
    »Wir Südstaatler wissen den Wert eines ruhigen Tages zu schätzen. Das kannst du uns nicht übel nehmen. Ich glaube, ihr Yankees beneidet uns nur ein bisschen…«
    »Ich finde, das Wort ›Yankee‹ hat etwas Beleidigendes.«
    »Das liegt daran, dass deine Definition dieses Wortes vermutlich ziemlich verworren ist.«
    »Das musst du mir erklären.«
    »In Ordnung. Yankee: eine Bezeichnung für alle Menschen, die nördlich von Virginia leben, vor allem für unhöfliche, analfixierte Nordstaatler, die viel zu schnell sprechen, weder von süßem Tee noch von einem Barbecue etwas verstehen und im Ruhestand nach Florida ziehen.« Cynthia lachte, ihre braunen Augen funkelten mich an. Ich erwiderte ihren Blick.
    Meine Augen brannten und ich wandte meinen Blick wieder zum Fenster, unter meinem Oxfordhemd und der safranfarbenen Krawatte klopfte mein Herz heftig.
    »Andy?«
    »Es geht mir gut«, sagte ich und bemühte mich, ruhig zu atmen.
    »Was ist los?«
    »Nichts.« Ich starrte aus dem Fenster hinab auf Queens, rang um Haltung und erzählte mir wieder diese Lüge.
    »Du wirkst in letzter Zeit so verändert«, sagte sie und führte ihr Weinglas an die Lippen.
    »Wieso?«
    »Ich weiß nicht. Doch da wir uns zum ersten Mal seit fast einem Jahr Wiedersehen, ist das vielleicht eine unfaire Einschätzung meinerseits.«
    »Bitte«, erwiderte ich und pikste eine Jakobsmuschel mit meiner Gabel auf. »Nur zu mit deiner Einschätzung.«
    »Seit deinem Urlaub scheinst du mir verändert. Nichts Dramatisches. Doch ich glaube, ich kenne dich lange genug, um zu merken, wenn etwas nicht stimmt.«
    »Und was stimmt deiner Ansicht nach nicht, Cynthia?«
    »Es ist schwer, es in Worte zu fassen«, meinte sie. »Es ist mehr so ein Gefühl aus dem Bauch heraus. Als du mich nach deiner Rückkehr diesen Sommer angerufen hast, war irgendetwas anders. Ich dachte, dir läge nur die Lesereise im Magen. Doch ich empfinde sogar jetzt und hier, wie abwesend du bist.« Ich trank ein weiteres Glas Wein leer. »Rede mit mir, Andy«, insistierte sie. »Fühlst du dich immer noch ausgebrannt?«
    »Nein. Ich weiß, dass dich das wirklich beunruhigt.«
    »Falls es eine Frau ist, dann sag es einfach und ich frage nicht weiter. Ich möchte mich nicht in deine persönlichen Dinge einmischen…«
    »Es ist keine Frau«, erklärte ich. »Sieh mal, es geht mir gut. Es gibt nichts, was du tun könntest.«
    Sie hob ihr Weinglas und schaute aus dem Fenster.
    Der Kellner kam, um unsere Teller zu holen. Er beschrieb ein teuflisches Himbeerschokoladensoufflee, doch es war schon spät und mein Flug ging am nächsten Morgen um 8 Uhr 30 von La Guardia. Daher zahlte Cynthia und wir fuhren mit dem Aufzug hinab auf die Straße. Da es beinah Mitternacht war, konnte ich mir nicht vorstellen, morgen früh pünktlich aufzuwachen. Ich hatte viel zu viel getrunken.
    Ich winkte für Cynthia ein Taxi heran und küsste sie auf die Wange, bevor sie einstieg. Sie bat mich, sie in der nächsten Woche anzurufen, und ich versprach es ihr. Als das Taxi davonfuhr, starrte sie durch die Heckscheibe, ihr ernster Blick durchbohrte mich und nagte an der Wurzel meiner inneren Unruhe.
    Du hast keine Ahnung.
    Nachdem das Taxi verschwunden war, ging ich auf dem Bürgersteig an mehreren Häuserblocks vorbei, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Der schmutzige East River mündete hier in den Atlantik, auch wenn ich ihn gerade nicht sehen konnte. Dafür roch ich das abgestandene, brackige Wasser. Vier Krankenwagen sausten mit kreischenden Sirenen vorbei. Da mein Hotel nur zehn Blocks in Richtung Norden lag, hoffte ich, dass mich der Spaziergang durch die kühle Septemberluft bis dahin etwas ausgenüchtert hatte.
    Ich fürchtete mich davor, nach Hause zu kommen. Seit Mitte Juni war ich durch das Land gereist und die mit Auftritten und Lesungen angefüllten Tage hatten mich in der Gegenwart verweilen lassen. Ich wollte keinen Moment lang allein sein. Meine Gedanken versetzten mich in Panik. Nun, da ich nach North Carolina in ein gemächlicheres Leben zurückkehrte, würde die Folter erst beginnen, das wusste ich. Ich schrieb an keinem Buch. Ich hatte nichts anderes zu tun, als mein Seehaus zu bewohnen. Zu existieren. Und ich fürchtete, dass mich dort diese zwei Wochen einholen würden, deren Existenz ich den ganzen Sommer über verleugnet hatte.
    Als meine Gedanken zurück in Richtung Wüste wanderten, zwang ich mich, an den jadegrünen See, den elfenbeinfarbenen Sand und

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