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Bruderherz

Titel: Bruderherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blake Crouch
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mich dem Gebäude näherte, setzte leichter Schneefall ein. Im Laufe des Tages war es immer kälter geworden, und der anfangs nur leicht bewölkte Himmel war mittlerweile von tiefen grauen Wolken verhangen, die auch die Bergspitzen verdeckten.
    Das Gerard-Gebäude gehörte zu den kleineren Gebäuden auf dem Campus – lediglich zwei Etagen hoch und schmal, der Name stand in Stein gemeißelt über der Tür. Draußen in der Kälte unter Orsons Gebäude kam ich mir sehr ungeschützt vor. Sein Büro lag im ersten Stock, doch er konnte sich irgendwo im Gebäude aufhalten, und auch wenn ich mich in der Entfernung sicher fühlte, wusste ich, dass er aus der Nähe sofort meine Augen erkennen würde.
    Fünf Minuten saß ich auf den Stufen, bevor ich mich traute, das Gebäude zu betreten. Doch als ich aufstand und nach der Tür griff, hörte ich drinnen Schritte auf dem Holzboden und sah durch das Fenster einen Schatten im Flur auftauchen. Ich drehte mich um und lehnte mich über das schwarze Geländer, als die Tür aufging.
    Ich roch ihr Parfüm, bevor ich sie sah. Eine ältere, immer noch schöne Frau stieg mit ihren hochhackigen Schuhen und dem schwarzen Mantel elegant die Stufen herab. Ihr blondes, von silbernen Strähnen durchzogenes Haar wippte, als sie über den Weg in Richtung Stadt davonging. Wieder schaute ich vorsichtig durch das hohe, schmale Fenster neben der Tür, und da das Foyer leer war, zog ich am Türgriff und betrat das Gebäude.
    Da weder Stimmen noch das Klappern der Tastaturen zu hören waren, wirkte das Brummen der Lampen über meinem Kopf geradezu ohrenbetäubend. Ihr hartes, weißes Licht beschien einen staubigen Boden. Die Magnetwand in der Glasvitrine wies das Gebäude als historische Fakultät aus, zudem waren dort in weißen Buchstaben die Nachnamen der Professoren mit den entsprechenden Zimmernummern angeschlagen. Als ich rechts und links den Flur entlangschaute, sah ich zu beiden Enden Treppenhäuser. Willkürlich wandte ich mich nach links und ging an vier nicht beschrifteten Türen und einem Wandschrank, auf dem »Hausmeister« stand, vorbei bis zur Treppe.
    Aus dem ersten Stockwerk erklang leise Jazzmusik. Am oberen Treppenabsatz blieb ich erneut stehen und blickte den Flur hinunter. Bis auf eine am anderen Ende des Flurs sporadisch aufflackernde Leuchtröhre war die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet. Das einzige gleichmäßige Licht kam aus zwei sich gegenüberliegenden, offenen Türen, aus denen mehrere miteinander diskutierende Stimmen und eine klagende Trompete erklangen.
    Bis zur ersten Bürotür konnte ich im Schatten gehen. Sie war geschlossen und auf einem Messingschild stand Stchykenski 206. Auf der anderen Seite des Flurs war aus Zimmer 207 das Klappern einer Tastatur und dazwischen leise klassische Musik zu hören.
    Keine fünf Meter entfernt stand auf der rechten Seite Orsons Tür weit offen und aus dem Innern drang leise Miles Davis’ »Blue in Green«. Ich schlich weiter, bis ich in Orsons leeres Zimmer spähen konnte und aus dem gegenüberliegenden Raum seine Stimme im Gespräch mit einer anderen vernahm: »Ich bin mir noch nicht ganz sicher«, hörte ich Orson sagen.
    »David, es besteht kein Grund zur Eile. Wir müssen erst kurz vor Weihnachten eine Entscheidung treffen. Soweit ich weiß, ist der 21. Dezember der letzte Termin.«
    »Bis dahin ist ja noch reichlich Zeit«, meinte Orson. »Ich möchte nur seine Publikationen gründlich studiert haben. Was ich bis jetzt gesehen habe, gefällt mir, aber ich möchte einfach sichergehen, Jack.«
    »Das möchten wir alle«, erwiderte Jack, »und auch nach Meinung der anderen ist Dr. Harris eine gute Besetzung für die Stelle. Wer seine Arbeiten bereits gelesen hat, hält ihn für bestens qualifiziert.«
    Von der anderen Treppe waren Schritte zu hören und ich zuckte zurück.
    »Verdammt!«, sagte Orson. »Ich bin noch mit einer Studentin verabredet. Wie wäre es, wenn wir morgen zusammen Mittag essen?«
    »Gerne.«
    Ein Stuhl wurde zurückgeschoben und ich rannte den Flur entlang. Zu meiner Rechten befand sich eine Herrentoilette, die ich zuvor übersehen hätte. Als Orson aus Jacks Zimmer auf den Flur trat, konnte ich gerade noch rechtzeitig darin verschwinden. In der Dunkelheit tropfte ein Wasserhahn. Durch einen Türspalt starrte ich in den Flur. Orson stand inzwischen auf der Schwelle zu seinem Zimmer, lehnte sich in den Türrahmen und unterhielt sich mit einer dicklichen, jungen Frau. Sie hatte hellbraune Haare, ein blasses

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