Bruderherz
und folgte ihm, wobei ich die Schritte von Orsons Grab bis zum Waldrand zählte. Als wir aus dem Wald hinaustraten, lag der Highway ruhig vor uns und kalter Nebel zog von den Bergen herab. Ich konnte nur noch etwa hundert Meter der Straße überblicken – dahinter undurchdringlicher, schwarzer Nebel.
Ich lehnte meinen Spaten an die größte Kiefer, die ich fand. Wir würden ein paar Markierungen brauchen, um den Ort in der Dunkelheit wiederfinden zu können. Als wir ins Auto stiegen, die Innenbeleuchtung anging und das Anschnalllämpchen aufblinkte, begann ich plötzlich zu verzagen. Walter irrte sich, wenn er mich für furchtlos hielt. Vielleicht machte der Nebel es noch schlimmer, aber ich hatte Angst. Auf der Rückfahrt zu unserem Gasthof zitterten meine Hände, obwohl sie das Lenkrad umklammerten. Insgeheim fürchtete ich, nicht dazu fähig zu sein. Trotz allem, was er getan hatte, war Orson mein Bruder. Mein Zwillingsbruder. Zwischen uns bestand ein Band.
Walter und ich schwiegen. Ich stellte mir vor, unser Schweigen sei ähnlich wie das zwischen Soldaten, denen eine blutige Aufgabe bevorstand. Kein Platz mehr für überflüssiges Geplauder. Stattdessen intensive Konzentration auf die bevorstehenden Stunden und die mentale Vorbereitung auf eine fürchterliche Tat.
Kapitel 24
Am frühen Freitagnachmittag, als die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte, glich mein Bett einem kleinen Waffenarsenal. Meine kompakte .40er Glock; Walters große .45er; zwei Schachteln Remington Kaliber .40 – 180-J-Teilmantelhohlspitzpatronen, zwei Schachteln Kaliber .45 – 185-J-Teilmantelhohlspitzpatronen; zwei zusätzliche Magazine für jede Handfeuerwaffe; zwei Amherst-RS446-Walkie-Talkies; achtzehn Ampullen Valium; eine Ampulle eines Gegengifts; drei Einmalnadeln für subkutane Injektionen, Gummihandschuhe, Lederhandschuhe, eine Kugelschreiberlampe, Handschellen und zwei Arbeitsoveralls, die ich in einem Militärladen in Davidson gekauft hatte.
Es war sehr schwierig gewesen, an das Valium heranzukommen. Walters Schwiegermutter litt an Panikattacken und zu ihren zahlreichen Medikamenten gehörte auch ein größerer Vorrat des mittelstarken Beruhigungsmittels Ativan. Er hatte dreizehn dieser 1-ml-Ampullen mitgehen lassen. Nach unserer Internetrecherche würde das ausreichen, Orson, wenn nötig, ein paar Tage lang im Koma zu halten. Der Nachteil des Ativan war jedoch, dass die Wirkung erst nach über zwanzig Minuten einsetzte, und ich brauchte etwas, was Orson in weniger als zwei Minuten außer Gefecht setzte.
Also hatte ich etwas sehr Schlimmes getan.
Krimiautoren haben mit ihren Mordschilderungen nur Erfolg, wenn sie realistisch schreiben, und im Laufe der Jahre hatte ich mich mit Anwälten, Polizisten und Fachleuten der unterschiedlichsten Gebiete angefreundet, die mich dankenswerterweise beim Schreiben berieten und meinen Romanen die nötige Authentizität verliehen. Die Ermittlungs- und Gerichtsszenen in meinen Romanen waren präzise recherchiert und von unfehlbarer Genauigkeit. Ich wählte immer die richtige Waffe. Ein befreundeter Pathologe ließ mich sogar einmal einer Autopsie beiwohnen, damit ich die olfaktorischen Erfahrungen im ersten Kapitel meines letzten Romans bis ins kleinste Detail wiedergeben konnte.
Auf den Anfangsseiten von »Blauer Mörder« stiehlt der Protagonist Drogen aus einem Krankenhaus. Daher hatte ich im Zuge meiner Recherchen für diesen Roman meinen Arzt gefragt: »Falls Sie Narkotika aus einem Krankenhaus stehlen wollten, wie würden Sie das anstellen?« Schriftsteller dürfen derlei Fragen stellen, niemand zweifelt an ihrem lauteren Motiv, denn »es ist ja wichtig für den Roman« und ihr Name taucht in der Danksagung auf.
Er hat mir genau erklärt, wie man es anstellen müsste, und er hatte verdammt Recht damit gehabt. Sein Rat hatte gelautet: »Plündern Sie den Aufwachraum. Selbst wenn die Narkotika hinter Verschluss sind, die Schlüssel dazu liegen meist in nicht abgeschlossenen Schubladen. Beten Sie, dass die Schwestern inkompetent sind. Finden Sie heraus, wo sich die Kameras befinden. Besorgen Sie sich einen Hausmeisterkittel und täuschen Sie so lange irgendeine Geschäftigkeit vor, bis Sie herausgefunden haben, wo die Schlüssel zum Giftschrank verwahrt werden.«
Dank der gleichgültigen, unaufmerksamen Schwestern im Aufwachraum des Mercy-Krankenhauses in Charlotte spazierte ich dort zwei Tage vor unserer Abfahrt mit fünf 1-ml-Ampullen des schnell wirkenden Valiums
Weitere Kostenlose Bücher