Bruderherz
mir blieben also nicht einmal mehr vier Stunden, um zu entscheiden, wie ich ihn umbringen und verschwinden lassen und dann selbst unauffällig die Stadt wieder verlassen könnte. Schließlich war ich mir sicher, dass ich zu unbesonnen und leichtsinnig gewesen war. Abgesehen davon wurde ich den Gedanken nicht los, dass womöglich ich bei dem Treffen mit dem Scheißkerl getötet werden konnte. Daher beschloss ich fünfzehn Meilen vor Scottsbluff, es nicht zu tun. Bis jetzt war ich systematisch vorgegangen, und die Idee, einen schnellen und cleveren Plan zur Beseitigung von Luther Kite zu entwerfen, erschien zwar verlockend, doch vier Stunden waren als Vorbereitung einfach zu kurz.
Das Ricki’s war eine üble Spelunke, die sich am südlichen Rand von Scottsbluff im Schatten der zweihundertfünfzig Meter hohen Felsklippe befand, die der Stadt ihren Namen verliehen hatte. Ich fuhr auf den verdreckten Parkplatz und stellte den Motor ab. Draußen empfing mich eine trockene, prickelnde Kälte, und obwohl der Einbruch der Nacht kurz bevorstand, wurden die Prärie und der in der Entfernung klein wirkende, aber deutlich erkennbare Gipfel des Chimney Rocks noch von der Sonne beschienen. Die Touristenbroschüre des Motels behauptete, dieser gerade mal einhundertfünfzig Meter hohe Inselberg sei für die Pioniere des Oregon-Trails ein Wahrzeichen gewesen – die erste Andeutung der vor ihnen liegenden Rocky Mountains. Während ich mit zwei Flaschen Wasser und drei Tüten Kartoffelchips auf den Kofferraum zuging, starrte ich auf die gelben Sandsteinkegel des Wildcat Range und dachte: Am liebsten würde ich mir einen dieser Hügel aussuchen, mich auf seinem Gipfel niederlassen und für immer dort bleiben. Ich würde einfach dort draußen sitzen, langsam mit der Landschaft verschmelzen, allein.
Ich hatte die Lebensmittel im Courthouse View gekauft; doch auf dem belebten Parkplatz des Motels den Kofferraum zu öffnen, wäre zu riskant gewesen. Der zum Ricki’s gehörende Parkplatz war leer bis auf meinen Lexus und einen Pick-up.
Orson war wach. Da ihn selbst das Licht der milden Abendsonne blendete, schloss er die Augen. Seine gefesselten Hände hatte er offenbar unter seinen Füßen durch nach vorne gezogen.
»Hier«, sagte ich und drückte ihm eine Flasche in die Hände. Während er wie ein Kleinkind trank, ließ ich die Chipstüten und die andere Flasche neben ihn fallen. »Es wird nicht mehr lange dauern«, erklärte ich. »Wir sind nur noch fünfunddreißig Meilen von der Grenze nach Wyoming entfernt.«
Ich hatte eine Spritze vorbereitet und verpasste ihm weitere vier Milligramm Ativan in den Arsch.
Im Handschuhfach fand ich einen Stift und riss ein Stück der Vermont-Straßenkarte ab. Ich hatte überlegt, Luther einfach anzurufen und Orson unser Treffen absagen zu lassen, aber ich befürchtete, dass mein Bruder derzeit seine Sprache nicht ausreichend kontrollieren konnte. Daher steckte ich den Zettel, den Stift und die Glock in die Tasche meiner Jeans, zog mir einen grauen Wollpullover über, schloss den Wagen ab und ging über den dreckigen Parkplatz auf die Bar zu.
Über der Tür hing ein Neonschild, auf dem in blauen Buchstaben »Ricki’s« leuchtete. Ich ging unter dem brummenden Schild in eine verlassene Bar, die kleiner war als mein Wohnzimmer. Unter der bedrückend niedrigen Decke hingen an den Wänden Bretter, die als Regale dienten, und da der Raum nur zwei Fenster rechts und links neben der Tür hatte, hatte ich das Gefühl, einen verrauchten Wandschrank zu betreten.
Als einziger Gast setzte ich mich auf einen Barhocker. Der Tresen bestand aus Eisenbahnschwellen, die immer noch nach Teer rochen. Namen, Verwünschungen, Liebeserklärungen und feindliche Botschaften waren in das schwarze Holz eingeritzt worden.
Während ich den Stift und den abgerissenen Zettel hervorkramte, trat eine Frau aus der Küche.
»Wir bedienen noch nicht«, erklärte sie. Sie trug enge Jeansshorts und ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift BEARCATS: ‘94 STATE CHAMPS quer über der Brust. Ihr glattes schwarzes Haar wirkte drahtig, ihre Zähne waren behandlungsbedürftig.
»Die Tür war offen«, erwiderte ich.
»Scheiße! Nun gut. Was wollen Sie?«
»Was auch immer Sie angezapft haben.«
Während sie nach einem Glas auf dem Kühlschrank griff und es mit dunklem Bier füllte, begann ich Orsons Notiz an Luther zu schreiben.
L – Ich habe
Sie stellte das Glas auf die Eisenbahnschwelle. »Einen Dollar fünfzig.«
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